Agenda 2030 und Partizipation

 

Eva Schmassmann

Mit Unterstützung von Denis Hofer und Lisa Rimli (CBM), Nina Vladović (HEKS), Tanja Krebedünkel und Fernanda Hintz (SGB-FSS)

Juni 2024

Partizipation ist eng mit dem Leitmotiv der Agenda 2030: Leave no one behind verknüpft. Menschen, die aktiv die Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenlebens mitgestalten können, verfügen über ein wirksames Instrument, Teil der Gesellschaft zu sein.
Partizipation geht über das Teilen von Informationen und das Einholen von Meinungen hin-aus. Es bedeutet den direkten Einbezug, der eine tatsächliche Mitgestaltung und Mitbestim-mung des Resultats ermöglicht. Partizipation ist nicht begrenzt auf die formellen politi-schen Partizipationsmöglichkeiten wie Wahlen oder Abstimmungen. Partizipation ist rele-vant in allen Lebensbereichen, wie Wirtschaft, Politik, Kultur, Medien, oder Sport.
Partizipation ist sowohl auf individueller wie auch auf kollektiver Ebene wichtig: Einzel-personen können individuell oder kollektiv – über Vereine, Gewerkschaften oder andere Zu-sammenschlüsse – ihre Lebensrealität mitbestimmen. Partizipation kann sowohl gegen innen als auch gegen aussen stattfinden: innerhalb unserer eigenen Organisationen und Prozesse und in der Zusammenarbeit mit externen Partner:innen.
Oft verhindern sichtbare oder unsichtbare Barrieren die aktive Mitgestaltung. Partizipati-on erfordert ein gewalt- und angstfreies Umfeld. Menschen müssen über ausreichend Zeit und Ressourcen verfügen, um mitzureden und gehört zu werden. Eine Einladung in der Muttersprache, in Gebärdensprache oder in leichter Sprache motiviert Menschen mit Migra-tionsgeschichte oder Menschen mit Behinderungen, sich zu beteiligen. Der Abbau von Barrie-ren erfordert auch, gleichzeitig auftretende und sich gegenseitig verstärkende Diskriminie-rungen zu berücksichtigen, die durch Geschlecht, Herkunft, Behinderung, Religion, Bildung oder Einkommen gegeben sind.
Partizipation geht einher mit Repräsentation: Verschiedene Lebensrealitäten müssen in den Institutionen vertreten sein, die Entscheide treffen. Mit Selbstrepräsentation kann aktiv die eigene Realität mitgestaltet werden. Politische Institutionen, aber auch wirtschaftliche Führungsgremien oder Medien müssen sich immer wieder die Frage stellen, welche Realität sie repräsentieren und welche Stimmen an ihrem Entscheidungstisch gehört werden.
Kontraproduktiv sind Prozesse der Scheinbeteiligung. Alibiveranstaltungen ohne inhaltli-che Relevanz für die spätere Entscheidungsfindung untergraben das Vertrauen und damit die Motivation, sich an weiteren Prozessen zu beteiligen.

Und die Schweiz?

In der Schweiz ist rund ein Viertel der Schweizer Wohnbevölkerung von der politischen Mitbestimmung weitgehend ausgeschlossen. Ohne Schweizer Pass dürfen sie auf nationaler Ebene nicht wählen und abstimmen. Lediglich in den Kantonen Jura und Neuenburg verfügen sie über politische Rechte auf kantonaler Ebene. Sie können wählen und abstimmen, sich jedoch nicht wählen lassen.

Partizipation erfordert ausreichend Zeit, Zugang zu Bildung, ein Verständnis für politische Zusammenhänge sowie existenzielle Sicherheit (Einkommen, gewaltfreier Raum, Gesundheit). Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung oder in der Furcht, diese zu verlieren, sind in ihren Partizipationsmöglichkeiten besonders stark eingeschränkt. Menschen mit Behinderungen können oft nur partizipieren, wenn sie über ausreichend eigene Mittel verfügen, um z.B. Dolmetschkosten in Gebärdensprache oder Assistenzleistungen selbst zu bezahlen.

Verschiedene Projekte versuchen gezielt, der Stimme von untervertretenen Gruppen auf politischer Ebene mehr Gewicht zu verleihen. In Kinder- und Jugendparlamenten erleben junge Menschen politische Prozesse und Mitbestimmung. Das Flüchtlingsparlament lässt Flüchtlinge politische Forderungen diskutieren, die von verschiedenen Organisationen in der öffentlichen Debatte weiterverfolgt werden. Nach der Frauensession 2021 fand im Bundeshaus 2023 eine Behindertensession statt. Bürger:innenräte experimentieren mit neuen Beteiligungsformen. Diese Projekte können über Vernetzung und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit motivierend für weitere Partizipation wirken, sowohl in den formellen Prozessen bis hin zur Bewerbung um ein politisches Amt, oder in den informellen Prozessen über Vereine oder Parteien. Die Möglichkeit, an einer Stelle mitzugestalten vermittelt das Gefühl der Zugehörigkeit und fördert die Bereitschaft, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen.

Zwei aktuelle Volksinitiativen fordern aktuell mehr Partizipation: Die Inklusions-Initiative fordert die Förderung von Gleichstellung, Teilhabe, Selbstbestimmung und Assistenz. Die Demokratie-Initiative will über ein leichteres Einbürgerungsverfahren der hier wohnhaften ausländischen Bevölkerung politische Rechte und Mitbestimmung geben.

In der Schweiz wie auch weltweit steigt der Druck auf Vereine und NGOs, die sich kollektiv für gesellschaftliche Veränderungen engagieren. Sie werden immer häufiger mit Klagedrohungen und tatsächlichen Klagen konfrontiert, wenn sie zu Menschenrechtsverletzungen, Korruption oder Umweltverschmutzung recherchieren. Finanzstarke Akteur:innen versuchen mit Einschüchterungsklagen, kritische Stimmen zu kriminalisieren. Die Prozesse binden Ressourcen und kosten Geld. Die Allianz gegen SLAPP (Strategic Lawsuits against public participation) wehrt sich gegen diesen zunehmenden Trend und will jene unterstützen, die in solche Gerichtsverfahren verwickelt werden. Sie sagt damit strategischen Gerichtsklagen den Kampf an, die zu einer Einschränkung der freien Meinungsäusserung und der Beteiligung an öffentlichen Debatten führen.

Das steht in der Agenda 2030

Partizipation ist sowohl als Ziel wie auch als Anforderung an den Prozess der Umsetzung der Agenda 2030 festgeschrieben. Zentral ist die Verankerung in SDG 16, welches eine bedarfsorientierte, inklusive, partizipatorische und repräsentative Entscheidungsfindung auf allen Ebenen fordert. Explizit als Ziel verankert, ist es weiter in SDG 5, welches die volle und wirksame Teilhabe von Frauen im politischen, wirtschaftlichen und öffentlichen Leben sicherstellt, und in SDG 6, welches die Mitwirkung lokaler Gemeinschaften bei der Wasserbewirtschaftung stärkt. SDG 16 will zusätzlich die Teilhabe der Länder des globalen Südens an den globalen Lenkungsinstitutionen erweitern und SDG 11 will die Kapazitäten für eine partizipatorische, integrierte und nachhaltige Siedlungsplanung und -steuerung in allen Ländern verstärken.

Zusätzlich wird ein partizipativer follow-up und Reviewprozess auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene festgelegt, an dem sich alle beteiligen dürfen.

Um echte Partizipation zu gewährleisten ist die Erfüllung vieler SDG eine Voraussetzung. So benötigen Menschen Ressourcen, um sich an partizipativen Prozessen zu beteiligen. Die Armut beenden (SDG 1) und fair bezahlte Arbeit (SDG 8), Zugang zu Gesundheit (SDG 3) und Bildung (SDG 4) sowie zu Informationen (SDG 16) sind notwendige Voraussetzungen. Gerechte Aufteilung der Sorgearbeit (SDG 5) erleichtert es Betreuungspersonen (oftmals Frauen), Zeit für Teilhabe und Mitbestimmung aufzuwenden. Und nicht zuletzt braucht der Staat ausreichend Ressourcen (SDG 17), um Prozesse partizipativ zu gestalten. Innovation und Digitalisierung (SDG 9) können Partizipation erleichtern, sie können aber auch neue Barrieren aufbauen. Eine inklusive Digitalisierung von Prozessen hilft, die Risiken frühzeitig zu erkennen und geeignete Massnahmen zu ergreifen.

Nicht zuletzt basiert Partizipation auf Vertrauen. Vertrauen zwischen Menschen ist in Ländern mit weniger Ungleichheit höher als in Ländern mit hoher Ungleichheit (SDG 10). Inklusive und transparente Institutionen fördern Vertrauen (SDG 16).

Spannungsfelder und Lösungsansätze

Oft werden fehlende Zeit und das Risiko von Ineffizienz als Hinderungsgrund für mehr Partizipation vorgebracht. Ein partizipativer Prozess benötigt Zeit, um die einbezogenen Menschen zu informieren, anzuhören, eine gemeinsame Meinungsbildung und Entscheidfindung zu moderieren. Die für den Prozess verantwortliche Person gibt die Kontrolle ab: sie hat das Resultat des Prozesses nicht allein in der Hand. Sie kann nicht bestimmen, was das Resultat sein wird.

Doch führt die Verlangsamung des Prozesses tatsächlich zu schlechteren Resultaten? Oft ist das Gegenteil der Fall: Partizipation erhöht die Relevanz des Resultats. Die Frage nach den Bedürfnissen und der Einbezug von Betroffen, falls möglich durch Selbstorganisation, führen zu passgenaueren Resultaten, die tatsächlich in Anspruch genommen werden und weniger Zeit für Erklärungen und Vermittlung benötigen. Über die gesamte Umsetzungsdauer können sich also die erforderlichen Ressourcen Zeit und Geld sogar vermindern.

Tatsächliche Partizipation erfordert eine klare und transparente Kommunikation. Welcher Handlungsspielraum besteht, wo sind die Einflussmöglichkeiten? Wann und von wem werden Entscheide gefällt? Es erfordert gewaltfreie Räume für Begegnung und Vertrauensarbeit. Und es erfordert Wissen und Erfahrung mit partizipativen Methoden.

Partizipation beginnt nicht im Erwachsenenalter. Wer als Kind Selbstwirksamkeit erlebt und seine Lebensrealität mitgestalten kann wird auch als erwachsene Person eher Verantwortung übernehmen.

Damit Menschen partizipieren, müssen sie zudem über Zeit verfügen. Zeit ist in unserer Gesellschaft sehr ungleich verteilt. Um Partizipation zu fördern sind Massnahmen erforderlich, die mehr Zeitwohlstand für alle schaffen. Diese reichen von Unterstützung in der Care-Arbeit (Kinderbetreuung, Unterstützung für pflegebedürftige Angehörige) über eine Verkürzung der Arbeitszeiten bis zu Partizipationsurlaub.

Durch den Abbau administrativer, juristischer, gesellschaftlicher, kommunikativer oder physischer Barrieren und die Stärkung individueller Ressourcen ermöglichen wir die Teilhabe und Mitwirkung aller Menschen an Entwicklungsprozessen. Leave no one behind bedeutet, entsprechende Massnahmen zu ergreifen.

Leitfaden, um Partizipation auf allen Ebenen zu stärken

Planung: von Beginn an partizipativ gestalten

  • Wer soll partizipieren? Selbstvertreter:innen offen und motivierend einbeziehen, in verständlicher Sprache (leichte Sprache, Gebärdensprache, falls nötig: Elternsprache)
  • Auf die Bedürfnisse der Beteiligten im Prozess eingehen, wo nötig Unterstützung anbieten
  • Sichere Räume schaffen und Vertrauen aufbauen
  • Handlungsspielräume offenhalten
  • Genügend Zeit einplanen
  • Transparent und klar kommunizieren
  • Geeignete Methoden wählen, um Entscheidungsprozesse partizipativ zu gestalten
  • Kontrolle abgeben

Repräsentation und Sichtbarkeit

  • Institutionen öffnen, attraktiv gestalten für Menschen, die noch nicht/zu wenig vertreten sind
  • Vielfalt fördern, Unterstützung bieten
  • Vorbilder unterstützen und Sichtbarkeit schaffen

Rahmenbedingungen

  • Politische Bildung auf allen Altersstufen fördern
  • Barrieren für die aktive politische Partizipation von untervertretenen Gruppen abbauen
  • Mit neuen Formen der Partizipation experimentieren
  • Zeitwohlstand für alle verbessern

Schutz

  • Effektiven Schutz vor Machtmissbrauch, Diskriminierung, Mobbing und sexualisierter Gewalt bieten
  • Das individuelle und das kollektive Recht auf Meinungsäusserung schützen

Auswertung

Geeignetes Monitoring, um den Erfolg der ergriffenen Massnahmen zu messen

Weiterführende Links und Quellen

Inklusions-Initiative

Demokratie-Initiative

Allianz gegen SLAPP

Fachstelle für Rassismusbekämpfung: Roadmap Institutionelle Öffnung

Studie von HEKS zur Relevanz zivilgesellschaftlichen Engagements für die Erreichung der SDGs: Ohne starke Zivilgesellschaft keine Entwicklung.

Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen EKKJ: Politische Bildung in der Schweiz. Positionspapier. Bern, August 2023

Alliance for Women, Peace, and Security: Zivilgesellschaftliche Prioritäten für Frauen, Frieden, Sicherheit. Für eine sichere, gleichberechtigte Schweiz und Welt für alle: Empfehlungen zum 5. NAP 1325. April 2024.

Eidgenössische Migrationskommission (EKM): Panorama der politischen Rechte von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz (Stand 2015)

UNHCR Schweiz: Partizipation von Flüchtlingen: wie umsetzen? 2023

Die Agenda 2030 und ihre 17 Ziele

Mit der Agenda 2030 und ihren 17 SDGs hat sich die Staatengemeinschaft 2015 auf eine Zukunftsvision einer Welt in Frieden geeinigt, in der niemand Hunger leiden muss, die Ökosysteme an Land und im Wasser geschützt sind und Konsum und Produktion die planetaren Grenzen nicht überschreiten. Partizipation ist in den SDGs 5, 6, 11 und 16 festgeschrieben. Dabei gilt: Der Weg ist das Ziel. Partizipation kann nur erreicht werden, wenn die Prozesse zur Umsetzung aller SDGs partizipativ gestaltet werden.

Wir bedanken uns herzlich bei der Oertli-Stiftung für ihren Beitrag an die Übersetzung dieser Publikation ins Französische und Italienische.