Leave no one behind
Während die Ungleichheit zwischen den Ländern tendenziell abnimmt, steigt sie in den einzelnen Ländern. In den letzten 20 Jahren hat die Einkommens- und die Vermögensungleichheit in der Schweiz zugenommen.
Zeitgleich wurde durch Steuerreformen die Progression reduziert: Während die hohen Einkommen überdurchschnittlich stark gestiegen sind, tragen sie deutlich weniger zur Finanzierung des Gemeinwesens bei als noch Mitte der 1980er Jahre. Die Schweizer Steuerpolitik trägt auch international zu mehr Ungleichheit bei. Economists without boarders schätzen, dass Konzerne jährlich über 100 Milliarden Dollar an Gewinnen in die Schweiz verschieben, die folglich in den Produktionsländern der Konzerne nicht versteuert werden.
Fehlende Einnahmen und daraus resultierende Sparpolitiken führen dazu, dass grundlegende Dienstleistungen nicht für alle gewährleistet sind – in der Schweiz und im globalen Süden. Entgegen dem Versprechen, niemanden zurückzulassen (Leave no one behind) akzeptiert unser aktuelles politisches System, dass bestimmten Bevölkerungsgruppen grundlegende Menschenrechte wie Zugang zu Bildung oder Gesundheitsversorgung verwehrt werden. So sind beispielsweise gehörlose Personen für ein selbstbestimmtes Leben, Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildung oder zur Politik auf die Unterstützung von Dolmetscher:innen angewiesen. Im Rahmen der beruflichen Tätigkeiten ist der Einsatz begrenzt, Gesuche werden im Einzelfall entschieden. Eine effektive Inklusion kann so nicht gewährleistet werden.
Auch bei der Integration von vorläufig Aufgenommenen und anerkannten Flüchtlingen wird nach Potential unterschieden, anstatt – im Sinne von Leave no one behind – allen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Auf die Bedürfnisse von mehrfach diskriminierten Menschen, darunter Frauen, die Familienarbeit leisten oder Menschen mit Behinderungen, wird zu wenig eingegangen. Die soziale Integration wird nicht ausreichend gefördert und finanziell unterstützt.
Die Coronakrise hat die Ungleichheiten im Land verschärft. Besonders Sans-Papiers befanden sich in einer prekären Situation, da sie keinen gesicherten Zugang zu staatlicher Hilfe hatten. Ebenso Migrant:innen, insbesondere temporär und im Stundenlohn beschäftigte Personen: Aus Angst, ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren, forderten sie ihnen zustehende Sozialhilfeleistungen oft nicht ein. Weltweit zeigt sich die Ungleichheit in der Pandemie extrem. In Staaten ohne funktionierende Sozialsysteme fehlt die soziale Absicherung, um Einkommensausfälle zu kompensieren; ohnehin diskriminierte Menschen und Gruppen waren und sind überproportional stark von der Krise betroffen.
Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen wurden in der Krise zu wenig berücksichtigt: Medienkonferenzen des Bundesrats wurden erst nach Intervention der Behindertenorganisationen in Gebärdensprache übersetzt. Erste Triage-Richtlinien diskriminierten Menschen mit Behinderungen. Bis heute existieren zudem keine Daten zur Situation von Menschen mit Behinderungen in der Coronapandemie.
Benachteiligte Menschen sind oft von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Aufgrund einer im internationalen Vergleich sehr restriktiven Einbürgerungspraxis bleibt einem Viertel der Schweizer Bevölkerung die politische Mitbestimmung verwehrt. Personen, die unter umfassender Beistandschaft stehen, werden heute auf Bundesebene und in den meisten Kantonen gänzlich von den politischen Rechten ausgeschlossen. Erst wenige Kantone und Gemeinden bieten Personen ohne Schweizer Pass oder unter umfassender Beistandschaft das Wahl- und Stimmrecht.
Mit dem UNO-Migrationspakt will die internationale Staatengemeinschaft sichere und legale Migrationswege schaffen. Die Schweiz steht bislang abseits und gestaltet ihre Asyl- und Migrationspolitik immer restriktiver. Asylgesuche auf Botschaften sind seit 2012 nicht mehr möglich, humanitäre Visa werden nur in seltenen Fällen vergeben. Auch die Möglichkeiten, sich an Resettlement-Programmen zu beteiligen, werden nicht ausgeschöpft. Zwar wurden für Geflüchtete aus der Ukraine rasch Möglichkeiten geschaffen, über einen besonderen Schutzstatus in die Schweiz zu gelangen und hier arbeiten zu dürfen. Doch gegenüber Geflüchteten aus anderen Ländern zeigt sich die Schweiz weiterhin hart.
Forderungen
- Die Steuer- und Finanzpolitik der Schweiz baut Ungleichheiten in der Schweiz ab. International trägt sie zu einer progressiven Steuer- und Finanzpolitik bei, die zu Umverteilung in den Ländern und zwischen Weltregionen führt.
- Die Schweiz erarbeitet eine Strategie und einen Massnahmenplan, um die UNO-Behindertenrechtskonvention umfassend in der Schweiz und in ihrer internationalen Zusammenarbeit umzusetzen und stellt dafür ausreichend Mittel zur Verfügung. Menschen mit Behinderungen werden in die Erarbeitung und die Umsetzung aktiv einbezogen.
- Die Schweiz anerkennt und fördert die drei Schweizer Gebärdensprachen.
- Die Schweiz richtet ihre Integrationspolitik an den Bedürfnissen der einzelnen Menschen aus. Sie berücksichtigt insbesondere die Bedürfnisse von Menschen, die von Mehrfachdiskriminierungen betroffen sind.
- Hürden auf dem Weg zur Einbürgerung werden abgebaut. Möglichkeiten zur politischen Mitgestaltung und Mitbestimmung für Personen ohne schweizerische Staatsbürgerschaft und Menschen unter umfassender Beistandschaft werden auf allen Ebenen ausgebaut.
- Die Schweiz unterstützt den UNO-Migrationspakt. Sie baut legale und sichere Fluchtwege in die Schweiz aus.
- Bund und Kantone analysieren die Folgen der Coronakrise auf Ungleichheit. Sie identifizieren Bevölkerungsgruppen, die besonders betroffen waren und achten spezifisch auf Mehrfachdiskriminierungen. In einem partizipativen Prozess werden Lehren für die Zukunft gezogen.
Autor:innen
Eva Schmassmann
In Zusammenarbeit mit Dominik Gross, Alliance Sud, Mirjam Gasser, CBM Schweiz/SDDC, Nina Vladović, HEKS, Deborah Thür, Schweizerischer Gehörlosenbund
Bericht als PDF
Weiterführende Literatur
- World Inequality Lab: Bericht zur weltweiten Ungleichheit 2022. Koordination: Lucas Chancel, Thomas Piketty, Emmanuel Saez, Gabriel Zucman. Kurzzusammenfassung. 2021. wid.world
- Daniel Lampart, Kristina Schüpbach: Verteilungsbericht 2020. Die Verteilung der Löhne, Einkommen und Vermögen sowie die Belastung durch Steuern und Abgaben in der Schweiz. Eine Publikationsreihe des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Nr. 140. Juli 2020.
- Anu Lannen, Sabin Bieri, Christoph Bader: Inequality: What’s in a Word? CDE Policy Brief, No. 14. 2019