Online-Lösungen dürfen den digitalen Graben nicht vertiefen
Interview mit Amélie Vallotton, Bibliosuisse
Welche Auswirkungen hat COVID-19 auf nachhaltige Entwicklung? Die Plattform Agenda 2030 führt eine Reihe von Interviews mit Expertinnen und Experten aus unseren Mitgliederorganisationen.
Bibliotheken bieten Dienstleistungen an, deren Wirkungen oft unterschätzt werden. Sie leisten damit auch einen wichtigen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung. Kannst du uns einige Beispiele nennen?
Die Grundaufgabe aller Bibliotheken ist an sich schon ein Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung, nämlich allen Menschen ohne Diskriminierung Zugang zu Informationen zu verschaffen (SDG 16.10). Auch in der Schweiz . Es ist offensichtlich, dass der Zugang zu Informationen für die Qualität von Bildung und Forschung, aber auch für eine informierte Bürgerbeteiligung usw. unerlässlich ist. In anderen Bereichen ist der Bezug zu Information weniger direkt sichtbar, und die Rolle der Bibliotheken ist weniger bekannt.
Jede Bibliothek richtet sich an ein bestimmtes Publikum (aus der Forschung, der Gemeinde, einem bestimmtem Fachgebiet) und entwickelt Angebote, bei denen ein besonderes Augenmerk auf Bevölkerungsgruppen mit spezifischen Bedürfnissen gelegt wird, um Diskriminierung zu vermeiden. Damit tragen Bibliotheken dazu bei, soziale Verbindungen aufrechtzuerhalten und alle Menschen in die Gesellschaft einzubeziehen, z.B.:
- Menschen mit verschiedenen Benachteiligungen in Bezug auf die Digitalisierung (Jugendliche, ältere Menschen, Mesnchen mit Behinderungen, Randgruppen, Personen ausserhalb eines beruflichen Umfelds, mittellose Student*innenen usw.) bieten die Bibliotheken vieles an: Workshops zu digitaler Ausbildung, Einordnen von Informationen und Identifizierung von fake news, sowie Zugang zu Computern, hochwertigen zahlungspflichtigen digitalen Inhalten und professioneller Unterstützung bei der dokumentarischen Recherche.
- Für ein Publikum mit Migrationshintergrund ist die Nutzung von Computer, Internet und der Zugang zu Information in der Muttersprache von wesentlicher Bedeutung, um die Verbindung zum Herkunftsland aufrechtzuerhalten. Bibliotheken stellen dies zur Verfügung. Andererseits sind der Erwerb der lokalen Sprache, die Begegnung mit den Einheimischen und die grundlegende Orientierung im neuen Kontext weitere wesentliche Bedürfnisse, auf die die Bibliotheken reagieren, indem sie einen Empfang, Dokumente, Workshops oder massgeschneiderte Aktivitäten anbieten.
Wegen der Coronavirus-Pandemie mussten die Bibliotheken schliessen. Wie gehen sie damit um? Welche Menschen treffen diese Stilllegungen am meisten?
Die Schweizer Bibliotheken haben auf die Gesundheitskrise auf unterschiedliche Weise reagiert. Sie alle agieren in einem spezifischen Kontext. Zunächst einmal sind sie von den Entscheidungen ihres Kantons oder ihrer Gemeinde abhängig, welche die Massnahmen des Bundesrats teilweise unterschiedlich ausgelegt haben. Zweitens handelt es sich bei «Bibliotheken» um sehr unterschiedliche Institutionen, mit jeweils eigenem Publikum mit spezifischen Bedürfnissen. Ihre Infrastrukturen und Budgets lassen sich nur schwer vergleichen. In einer solchen Krise kann man die Reaktion einer wissenschaftlichen Bibliothek nicht mit derjenigen einer Gemeindebibliothek vergleichen, die manchmal von einer einzigen Person geführt und bedient wird.
In allen Fällen mussten die sich widersprechenden Bedürfnisse erfüllt werden, einerseits die Gesundheit der Gäste und des Personals zu schützen und andererseits den Zugang zu Informationen aufrechtzuerhalten. Akademische Bibliotheken haben schnell effiziente digitale Dienstleistungen eingeführt. Währenddessen haben Stadt- oder Gemeindebibliotheken je nach Kontext gemischte Angebote (Hauszustellung, E-Books usw.) eingeführt.
Eine Verlagerung hin zur Digitalisierung hat in allen Bereichen stattgefunden. Auch Bibliotheken haben sich in dieser Ausnahmesituation auf diese Lösung verlassen. Sollte die Situation jedoch anhalten, müssten die Bibliotheken überzeugend auf die Herausforderung reagieren: Es darf nicht sein, dass sich der digitale Graben infolge dieser Krise vergrössert.
Was braucht es, damit Bibliotheken ihre Rolle wieder aufnehmen können?
Die Bibliotheken müssen sich auf klare Richtlinien für ihre Wiedereröffnung verlassen können (Bibliosuisse arbeitet daran in enger Zusammenarbeit mit dem BAG). Ausserdem müssen konkrete Antworten auf die spezifischen Bedürfnisse von Menschen entwickelt werden, die durch die Corona-Krise noch stärker von Ausgrenzung bedroht sind.
Das Interview wurde von Mario Huber auf Französisch geführt.
Ergänzende Informationen auf der Website von Bibliosuisse: bibliosuisse.ch
Amélie Vallotton
Ko-Präsidentin der Kommission Biblio2030 und Vizepräsidentin von Bibliosuisse