Nachhaltige Quartiere sind Zeichen einer lebendigen Demokratie
Interview mit Rebecca Joly, Mieterinnen- und Mieterverband Schweiz MV
Welche Auswirkungen hat COVID-19 auf nachhaltige Entwicklung? Die Plattform Agenda 2030 führt eine Reihe von Interviews mit Expertinnen und Experten aus unseren Mitgliederorganisationen.
Fast fünf Millionen Mieterinnen und Mieter in der Schweiz sind wegen der Pandemie aufgerufen, ihre Wohnungen nur in dringenden Fällen zu verlassen. Was gibt es zu befürchten?
Wegen der hohen Mieten drängen sich viele Menschen und Familien in engen Wohnungen zusammen. Je mehr Zeit vergeht, desto grösser ist das Risiko von Depressionen und psychischen Störungen.
Bei den Mietverhältnissen hat der Bundesrat für direkt von der Krise betroffene Mieterinnen und Mieter, d.h. in erster Linie Gechäftsmieterinnen und -mieter, lediglich die Kündigungsfrist bei unbezahlten Mieten von 30 auf 90 Tage verlängert. Tausende von Restaurants und kleinen Läden verloren jedoch seit Beginn des Lockdowns Mitte März ihr Einkommen oder zumindest grosse Teile davon, was insbesondere auf die Zwangsschliessung von Geschäften zurückzuführen ist. Der MV Schweiz intervenierte sofort, damit die Vermieter und der Bund während der Coronakrise den Grossteil der Mieten für gewerbliche Mietverträge übernehmen. Leider waren die ersten Gespräche mit den Immobilienvertretern erfolglos. Wir bitten heute Wohnbauminister Guy Parmelin, die Partner in einem kleinen Kreis zusammenzubringen und auf diese Anliegen einzugehen. Die beiden Wirtschaftskommissionen des Parlaments haben sich ebenfalls in diesem Sinne geäussert. In einigen Kantonen zeichnen sich Lösungen ab, von denen sich der Bund inspirieren lassen könnte. Es ist jedoch wichtig, die Gleichbehandlung von Mieterinnen und Mietern im ganzen Land zu gewährleisten.
Das erste Unterziel des SDG 11 “Nachhaltige Städte” besteht darin, bis 2030 den Zugang aller zu angemessenem und sicherem Wohnraum und grundlegenden Dienstleistungen zu erschwinglichen Kosten zu gewährleisten. Wie kann dies erreicht werden?
Sowohl weltweit wie in der Schweiz ist die Herausforderung enorm. In der Schweiz befindet sich Wohneigentum meist in Privatbesitz und geht zunehmend an gewinnorientierte Immobiliengesellschaften. Indem wir gemeinnützigen Wohnungsbau fördern, können wir für alle erschwingliche Mieten garantieren. Für Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen wäre dies eine enorme Entlastung. Am 9. Februar unterstützten fast 43% der Wählerinnen und Wähler unsere Initiative, den Wohnraum aus Spekulationen herauszuhalten. Dies soll die Gemeinden und Kantone zum Handeln anregen.
Insbesondere die Städte unterstützten die Initiative für bezahlbare Wohnungen. Wie können wir sicherstellen, dass Wohnen nach der Coronakrise nachhaltiger wird?
Viele Projekte nachhaltigen Bauens werden durch die Pandemie auf Eis gelegt. Nach der Krise wird es wichtig sein, dass bei den öffentlichen Subventionen und Investitionen nicht die Wohnbaugenossenschaften vergessen gehen, die wirklich preisgünstige Mieten anbieten. Quartiere, die sich als nachhaltig verkaufen, betreiben teils reines Greenwashing oder ziehen nur gut situierte Menschen an. Dies gilt es zu vermeiden. Nachhaltige Quartiere benötigen eine gute Durchmischung der verschiedenen sozialen Kategorien und Generationen. Die gemeinnützigen Wohnbauträger innovieren oft in Bezug auf Energieeffizienz, Einsatz erneuerbarer Energien, kurzen Wegen und der Pflege von mit Bäumen bepflanzten Flächen. Die zukünftigen Bewohnerinnen und Bewohner müssen an der Gestaltung der Wohnungen mitwirken können, noch bevor diese gebaut werden. Nachhaltigkeit bedeutet auch, eine lebendige lokale Demokratie zu fördern.
Das Interview wurde von Pierre Zwahlen auf Französisch geführt.
Weitere Informationen: Webseite des Mieterverbands zur Corona-Krise
Rebecca Joly
Stellvertretende Generalsekretärin, Mieterinnen- und Mieterverband Schweiz MV