Keine weisse Weste für den Westen
Nicht die Vereinten Nationen sind das Problem, sondern die Eigeninteressen der Mitgliedstaaten. Ein Plädoyer für einen wertebasierten und menschenzentrierten Multilateralismus anlässlich des Weltfriedenstags vom 21. September.
Die Vereinten Nationen (UNO) wurden 1945 in den Nachwehen des zweiten Weltkriegs geschaffen und sollten als Instrument zur besseren Verständigung und Kooperation der Staatengemeinschaft und zur Bewahrung des internationalen Friedens dienen. Zwei der jüngsten Meilensteine in der Geschichte der UNO sind die Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens sowie die Verabschiedung der Agenda 2030, welche mit ihren 17 Nachhaltigkeitszielen den internationalen Kompass für nachhaltige Entwicklung repräsentiert. Mit der Unterzeichnung der Agenda haben sich die Mitgliedstaaten einig gezeigt, dass die Nachhaltigkeitsziele nur umfassend gedacht und international umgesetzt werden können. Deshalb lauten die fünf Dimensionen der Agenda People, Planet, Prosperity, Peace, and Partnership. Doch die zunehmende Autokratisierung, nationalistische Strömungen und die mangelnde Sorgfaltsprüfung multinationaler Unternehmen führen dazu, dass People – also die Überwindung von Armut und Hunger – und Prosperity nur für Teile der Weltbevölkerung zum Tragen kommen. Planet, Peace and Partnership werden dadurch zweitranging behandelt.
Die Illusion universeller Werte
Es ist fraglich, ob die Staatengemeinschaft die notwendigen Grundwerte vertritt, um die Agenda 2030 vollumfänglich und partnerschaftlich umzusetzen. Denn es tun sich zunehmend Gräben auf. Die UNO steht vor verschiedenen Herausforderungen: Einerseits steigt mit der wachsenden Zahl spezialisierter Unterorganisationen auch die Bürokratisierung, die Gefahr von Parallelstrukturen und einem Konkurrenzkampf um schwindende Ressourcen. Gleichzeitig sind aber auch die Entscheidungsgremien der UNO immer öfter blockiert. Das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats verhindert gerade im Kontext steigender Rivalitäten zwischen den USA, Russland und China immer wieder die Verabschiedung wichtiger Resolutionen zur Wahrung des internationalen Friedens und zum Schutz der Menschenrechte.
Aber auch aus dem Menschenrechtsrat gibt es wenig Hoffnungsvolles zu berichten. So versucht China schon seit Jahren, seinen Einfluss in multilateralen Gremien zu stärken, und wirkt unter anderem gezielt auf eine Schwächung der Definition von universellen Menschenrechten hin. Und die Strategie scheint aufzugehen – so nahm der Menschenrechtsrat im Juni 2020 mit 23 zu 16 Stimmen eine Resolution von China mit dem Titel «Mutually beneficial cooperation in the field of human rights» an, welche die Menschenrechte als Gegenstand von Verhandlungen und Kompromissen betrachtet. Neben Bahrain und Qatar haben sich die meisten afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Länder auf die Seite Chinas gestellt.
Auch die kürzlichen Diskussionen in der Generalversammlung der UNO geben zu denken; so wurde im April eine Resolution, welche Russland aufgrund des Angriffskrieges in der Ukraine aus dem Menschenrechtsrat ausschliessen wollte, nur von 93 Ländern angenommen. 24 Länder stimmten dagegen und 58 enthielten sich ihrer Stimme, darunter neben China eine Vielzahl afrikanischer, asiatischer und lateinamerikanischer Länder. Während KommentatorInnen hier teilweise einen neuen «West-Ost»- oder «Nord-Süd»-Graben heraufbeschwören, scheint die Realität doch etwas komplexer zu sein.
China ist in den letzten Jahrzehnten zur wirtschaftlichen Grossmacht aufgestiegen und hat in vielen Ländern des Globalen Südens neue Abhängigkeiten geschaffen (siehe «global» #86); zudem hat sich Russland dank der Unterstützung antikolonialer Bewegungen viele Freunde gemacht. Während der Westen seine Rhetorik immer stärker auf die direkte Konfrontation zwischen Demokratien mit «westlichen Werten» und Autokratien zuspitzt, mobilisieren sowohl China wie auch Russland eine gezielt antiwestliche Rhetorik, die in vielen Ländern Anklang findet. So wird den westlichen Ländern – oft zurecht – Heuchlerei vorgeworfen, was die Hochhaltung von Menschenrechten und Demokratie angeht. Zu oft haben sie Menschenrechte im In- und Ausland mit Füssen getreten und Diktaturen gestützt, wo immer wirtschaftliche oder politische Interessen im Vordergrund standen.
Wie weiter?
Allgemein scheint unbestritten, dass die UNO, trotz aller Differenzen der Mitglieder, Teil eines unverzichtbaren Systems der internationalen Diplomatie und des Dialogs ist. Es fehlt auch nicht an Prinzipien oder festgehaltenen Visionen und Werten. Es fehlt an deren Umsetzung durch die Staaten. Die ursprünglichen Grundwerte der Charta – der Glaube an die universellen Grundrechte aller Menschen, die Würde und den Wert der menschlichen Persönlichkeit, die Gleichberechtigung der Geschlechter sowie die Gleichberechtigung aller Nationen – bieten einen starken moralischen Rahmen. Auch die im Pariser Klimaabkommen und in der Agenda 2030 verankerten Visionen, die sich an den gemeinsamen, langfristigen Interessen aller Staaten orientieren, sind wegweisend. Die Lösungsansätze für eine durchsetzungskräftige und starke Weltgemeinschaft scheinen simpel, sind aufgrund der bestehenden Machtverhältnisse sowie der generell stärkeren Gewichtung nationaler Eigeninteressen in der Umsetzung aber wenig realistisch.
Um eine wertebasierte globale Ordnung zu schaffen, muss als erstes institutionell sichergestellt werden, dass alle Staaten einen menschenzentrierten Multilateralismus fördern und die Interessen ihrer Bevölkerung – allen voran den ärmsten und gefährdetsten Bevölkerungsschichten – vertreten. Dazu braucht es eine aktive Zivilgesellschaft, die mit am Tisch sitzt. Gleichzeitig müssen länderübergreifende Koalitionen, welche auch Zivilgesellschaft, Privatwirtschaft und Wissenschaft miteinbeziehen und sich kompromisslos für Menschenrechte und Nachhaltigkeit im Sinne der Allgemeinheit einsetzen, geformt und gestärkt werden.
Wichtig ist dabei, dass die aktuelle Polarisierung in verschiedenen UNO-Gremien nicht verschärft wird, indem sie als «West-Ost»- oder «Nord-Süd»-Konflikt dargestellt wird. Alle Staaten sind angehalten, die universellen Menschenrechte kompromisslos hochzuhalten und die langfristigen gemeinsamen Interessen vor kurzfristige Eigeninteressen zu stellen. In dem Sinne hat kein Land dieser Welt eine weisse Weste: Auch der Westen wird vom hohen Ross heruntersteigen und sich eingestehen müssen, dass viele seiner Errungenschaften auf Kosten anderer Länder erreicht wurden und dort massive soziale, ökologische und wirtschaftliche Kosten verursacht haben und nach wie vor verursachen.
Die Schweiz beruft sich gerne auf ihre humanitäre Tradition. Mit der «Genève internationale» sowie neu als Mitglied des UNO-Sicherheitsrats wäre sie perfekt aufgestellt, um eine wertebasierte multilaterale Zusammenarbeit zu fördern und ihr den entsprechenden Stellenwert zu verleihen. Als eines der Länder, das Jahr für Jahr am meisten negative Spillover-Effekte auf die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele in anderen Ländern hat, steht sie zudem in der Pflicht, die Menschenrechte immer und für alle kompromisslos hochzuhalten, ihre Handels-, Finanz- und Steuerpolitik dementsprechend anzupassen und auch (nicht-)verpflichtende Abkommen der UNO, insbesondere das Pariser Klimaabkommen und die Agenda 2030, konsequent und vollumfänglich umzusetzen.
Dieser Artikel ist in #85, der Herbstausgabe 2022 von global erschienen, dem vierteljährlich erscheinenden Magazin von Alliance Sud.
Kristina Lanz
Fachverantwortliche Entwicklungspolitik
Laura Ebneter
JPO Entwicklungspolitik