„Beyond GDP“: Initiativen zur Messung dessen, was wirklich zählt

3. Feb. 2025 | Aktualität, Stellungnahme

In der Schweiz und weltweit setzen sich zahlreiche Initiativen mit der Frage des BIP und Alternativen auseinander. Ziel ist es, nicht nur den von einem Land produzierten monetären Reichtum zu bewerten, sondern eine umfassendere Grösse zu finden. In der Schweiz wurde die SIPI-Initiative im Rahmen eines Side Events des WEF im Januar 2025 ins Leben gerufen. Dieser Artikel bietet einen Überblick über diese Initiative und gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der laufenden internationalen Prozesse. 

Als Simon Kuznets das BIP entwickelte, versuchte er, die Auswirkungen der Grossen Depression auf die US-Wirtschaft zu verstehen und zu zeigen, wie sich die Wirtschaft nach der Krise wieder erholte. Er war der erste, der davor warnte, dass das BIP nicht als Grundlage für die Gestaltung der öffentlichen Politik dienen sollte und dass es keinesfalls ein Indikator für das Wohlbefinden oder den Lebensstandard der Bevölkerung ist.

Fast 90 Jahre später wird das BIP weiterhin überall verwendet und von vielen als Selbstzweck gesehen, als ob ein BIP-Wachstum automatisch eine Verbesserung der Lebensbedingungen garantieren würde. Wir wissen jedoch, dass es eine so eindeutige Korrelation nicht gibt. Vor allem können wir die – negativen – ökologischen und sozialen Auswirkungen der Politik, die darauf abzielt, jedes Jahr ein BIP-Wachstum zu unterstützen, nicht länger ignorieren (siehe den Artikel „Messen, was wirklich zählt“ für weitere Informationen).

Seit einigen Jahren gibt es zahlreiche Initiativen, die versuchen, eine Alternative oder zumindest ergänzende Standards zum BIP zu erarbeiten. Eine Studie aus dem Jahr 2019 listet über 500 davon auf, darunter das Bruttonationalglücks in Bhutan und die Zusammenarbeit von fünf Ländern (Schottland, Island, Neuseeland, Wales und Finnland) im Rahmen der „Wellbeing economy Alliance“.

Seit Anfang dieses Jahres engagiert sich auch die Schweiz mit dem Start eines neuen Projekts in dieser Richtung. Ein kleiner Einblick in die Arbeit bei uns und über unsere Grenzen hinaus.

In der Schweiz: Auftakt von #SIPI

In der Schweiz laufen die Diskussionen um Alternativen zum BIP auf Hochtouren: Am 20. Januar folgten fast 180 Vertreter:innen aus der Wirtschaft, der öffentlichen Verwaltung, der akademischen Welt und der Zivilgesellschaft – darunter die Plattform Agenda 2030 – der Einladung von B-Lab zum Auftakt der „Swiss Impact & Prosperity Initiative“ (SIPI). Diese Initiative zielt darauf ab, „neu zu definieren, wie wir Erfolg und Wohlstand messen, indem wir uns von traditionellen Wirtschaftsindikatoren wie dem BIP entfernen“. Dieser Index sollte ökologische, soziale, menschenrechtliche und wirtschaftliche Faktoren integrieren, um einen ganzheitlichen Überblick über den Schweizer Wohlstand zu bieten und gleichzeitig Externalitäten wie Auswirkungen auf die Natur, soziale Ungleichheiten und die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen zu berücksichtigen.

Bei dieser Veranstaltung wurde die Dringlichkeit der Lage hervorgehoben: Sechs der neun planetaren Grenzwerte sind bereits überschritten, die soziale Ungleichheit nimmt zu und der Bericht über die globalen Risiken bestätigte, dass die vier grössten strukturellen Risiken der nächsten zehn Jahre im Umweltbereich liegen. Selbst als kleines Land hat die Schweiz eine wichtige Rolle zu spielen: Während die Schweiz in den Nachhaltigkeitsrankings im Allgemeinen recht gut abschneidet, ist sie besonders schlecht, wenn es darum geht, die im Ausland verursachten negativen Auswirkungen zu berücksichtigen, und belegt im Sustainable Development Report den 163 Platz.  Die Initiant:innen von SIPI sind sich einig und fordern die Schweiz auf, eine Führungsrolle zu übernehmen. SIPI wird daher mit einer ehrgeizigen Aufgabe betraut: Die zentralen Akteure in der Schweiz sollen zusammengebracht werden, um einen allgemeinen Rahmen und Indikatoren zu entwickeln, die zusätzliche Informationen zum BIP liefern. Dieser Rahmen soll ein neues „Narrativ“ rund um die Frage, was Wohlstand in der Schweiz bedeutet, hervorheben, das soziales Wohlergehen, Umweltverantwortung und Widerstandsfähigkeit umfasst und die „wahren Kosten“ (Auswirkungen auf die Umwelt und soziale Ungleichheiten) berücksichtigt.

Unsere Forderungen gegenüber SIPI

Im zweiten Teil der Veranstaltung hatten die Anwesenden die Möglichkeit, die Initiative zu kommentieren und Ergänzungen und Kommentare anzubringen. Die Plattform Agenda 2030 äusserte sich zu verschiedenen Punkten:

  • SIPI muss inklusiver werden: Neben Stimmen von marginalisierten Gruppen und aus Ländern des globalen Südens (die direkt von den Schweizer Wirtschaftsaktivitäten betroffen sind) sollten auch Akteur:innen mit unterschiedlichen politischen Meinungen einbezogen werden.
  • Berichterstattung ist kein Selbstzweck. SIPI muss in konkrete politische Massnahmen übersetzt werden können. Ansonsten besteht die Gefahr, dass SIPI zu einem x-ten Programm zur reinen Datenerhebung wird. Die Schweiz muss mehr konkrete Massnahmen ergreifen, um ihre Verpflichtung, die SDGs bis 2030 zu erreichen, zu erfüllen. Beispiele hierfür sind die Notwendigkeit einer starken Umsetzung des Klimagesetzes, die Einhaltung internationaler Regulierungen zur Geldwäsche und Transparenz von juristischen Personen sowie die Abschaffung von Subventionen und Steuererleichterungen, die dem Klima und der Biodiversität schaden.
  • Viele Anwesende wiesen auf die Schwierigkeiten hin, mit denen sie konfrontiert sind, wenn sie ihre wirtschaftlichen Aktivitäten nachhaltig gestalten wollen: mangelnde Anerkennung (man denke an die parlamentarische Initiative zur Schaffung eines Rechtsstatus „nachhaltiges Unternehmen“ für Schweizer KMU, die von der Rechtskommission des Nationalrats abgelehnt wurde), ungünstige wirtschaftliche Bedingungen und weniger rentable nachhaltige Investitionen. Hier setzt sich die Plattform Agenda 2030 für einen engeren Austausch zwischen der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft ein, damit die Wirtschaft von den Fähigkeiten und dem Wissen der in verschiedenen Bereichen tätigen NGOs profitieren kann.

Der offizielle Start von SIPI mit der Formalisierung des Partnerkonsortiums ist für das Frühjahr 2025 geplant. Zuvor wird ein Webinar stattfinden, in dem die Ergebnisse der Konsultation vom 20. Januar vorgestellt werden. Bis dahin wird die Stiftung B Lab (Schweiz) das Projekt weiter detaillieren, indem sie Inputs von interessierten Akteuren sammelt (siehe hier) und ein Konsortium von Partnern zusammenstellt, die sich an dem Projekt beteiligen möchten. Die Plattform Agenda 2030 wird mit B-Lab in Kontakt bleiben, um die Positionen der Zivilgesellschaft in diesem Prozess zu vertreten.

« Beyond GDP » auf UNO-Ebene

Im Jahr 2021 veröffentlichte der Generalsekretär der Vereinten Nationen den Bericht „Unsere gemeinsame Agenda“, in dem er seine Vision für die Zukunft der globalen Zusammenarbeit darlegte und Lösungen für die Lücken und Risiken bei der Umsetzung der SDGs aufzeigte. In diesem Zusammenhang rief er unter anderem dazu auf, einen „Zukunftsgipfel“ zu organisieren, der im September 2024 stattfand.

Das BIP – und die Notwendigkeit, ein solides alternatives System auf internationaler Ebene zu finden – war eines der zentralen Themen, die in der „Gemeinsamen Agenda“ behandelt wurden: «Wenn Profite auf Kosten der Menschen und unseres Planeten gehen, bleiben wir mit einem unvollständigen Bild der wahren Kosten des Wirtschaftswachstums zurück.» Daraufhin wurde im Mai 2023 ein „Policy Brief“ veröffentlicht, in dem der Generalsekretär drei konkrete Empfehlungen an die Mitgliedstaaten formulierte. Darüber hinaus sollte sich der zu entwickelnde Rahmen auf sechs Elemente konzentrieren: Wohlbefinden und Handlungsmöglichkeiten, Respekt vor dem Leben und dem Planeten, weniger Ungleichheit und mehr Solidarität, partizipative Regierungsführung und wirksame Institutionen, innovative und ethische Volkswirtschaften und letztlich der Übergang von der Verwundbarkeit zur Widerstandsfähigkeit (Resilienz).

In dem von der Generalversammlung auf dem Zukunftsgipfel verabschiedeten Zukunftspakt verpflichten sich die Mitgliedstaaten, «einen Rahmen zur Messung der Fortschritte bei der nachhaltigen Entwicklung zu entwickeln, der das Bruttoinlandsprodukt ergänzt und andere Parameter berücksichtigt». Sie beauftragen den Generalsekretär, eine Gruppe von Expert:innen zu bilden, die Indikatoren für nachhaltige Entwicklung in Ergänzung des BIP ausarbeiten sollen.

Wie weiter ?

Was können wir von der Vielzahl an Projekten und Initiativen erwarten, die derzeit in der Schweiz und auf internationaler Ebene laufen? In erster Linie eine bessere Koordination, die es den beteiligten Ländern und Akteuren ermöglicht, zu einem gemeinsamen System zu konvergieren. Darüber hinaus ist es entscheidend, dass starke Stimmen hervortreten, die das Narrativ rund um die Bedeutung des BIP verändern. Wir brauchen Politiker:innen, die das Wohlbefinden über das Wirtschaftswachstum stellen, indem sie für eine an neuen Indikatoren ausgerichtete öffentliche Politik eintreten. Auch Unternehmen müssen ihren Beitrag zu den SDGs und anderen Zielen, die über das simple Streben nach Wirtschaftswachstum hinausgehen, aufwerten. Und schliesslich spielen die Medien eine Schlüsselrolle, indem sie diese Initiativen hervorheben und den Mut haben, das BIP als einzige Massnahme für Fortschritt in Frage zu stellen.

Der Weg ist noch lang, aber die Entwicklung ist in Gang gebracht. Wir freuen uns darauf, zu den nächsten Schritten dieser Transformation beizutragen.

Portrait Rianne Roshier
Rianne Roshier

Plattform Agenda 2030

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