Barrierefreier Tourismus: gelebtes Faktum oder fernes Ziel?
Letztes Jahr hat man sich auf EU-Ebene auf eine Agenda für den Tourismus 2030 geeinigt. Nachhaltigkeit wird grossgeschrieben. Oder zumindest wird das Wort oft verwendet – auf 17 Seiten kommt es 35-mal vor. Doch Papier ist geduldig. Und: Wird eine Form der Nachhaltigkeit – nämlich die Freiheit von Barrieren – vergessen? Wir sprachen mit Gabriel N. Toggenburg, einem Honorarprofessor für EU-Recht und Europäischen Menschenrechtsschutz, der sich mit diesem Thema beschäftigt.
Vera Thaler: Herr Toggenburg, ist der Tourismus in Europa barrierefrei?
Gabriel N. Toggenburg: Wohl eher nein. Wobei sich das natürlich schwer in Zahlen fassen lässt. Die EU-Kommission hat eine Studie in Auftrag gegeben. Die kam 2015 zum Schluss, dass es etwa 300 000 registrierte touristische Dienstleister in der EU gibt, die zu einem gewissen Ausmass barrierefrei sind. Portugal und Spanien haben da zum Beispiel gut abgeschnitten. Im Osten sieht es schon wesentlich magerer aus. Insgesamt kam die Studie zum Schluss, dass weniger als 10 Prozent der Tourismusanbieter barrierefrei Dienstleistungen anbieten.
VT: 10 % klingt nach nicht besonders viel, oder? Wie viele Personen haben denn eine Behinderung?
GT: In der EU schätzt man, dass knapp 90 Millionen eine Form von Einschränkung haben. Wir sprechen also nicht von einem Zehntel, sondern von einem Fünftel der EU-Bevölkerung. Da unsere Gesellschaften immer älter werden, wird auch die Nachfrage nach Barrierefreiheit immer grösser. Darüber hinaus sind jene Dienstleistungen, die sich als barrierefrei bezeichnen, oft nur sehr eingeschränkt barrierefrei bzw. zielen nur auf eine bestimmte Gruppe ab, etwa Rollstuhlnutzer*innen. Viele Fragen bleiben ungestellt.
VT: Welche Frage muss sich denn ein Hotelier oder eine Tourismusdienstleisterin stellen?
GT: Viele. Kommt man mit einem Kinderbuggy leicht zu unserem Schwimmbad? Kann sich unser Rezeptionist auf Augenhöhe mit einem Rollstuhlnutzer unterhalten? Sind unsere Stiegen altersgerecht für Leute über 65 Jahren ausgelegt? Kommt ein Rollator um diese Ecke? Kann man sich mit einem Rollstuhl in dieser Dusche umdrehen? Gibt es ausreichend Sitzgelegenheiten? Sieht jemand mit Sehschwäche dieses oder jenes Hindernis am Gang? Wie kann ein Gehörloser unser Alarmsignal wahrnehmen? Wissen meine Angestellten, wie man mit einem Blinden spricht? Was braucht ein Asthmatiker im Urlaub? Und und und ….
VT: In einer idealen Welt würden all diese Dinge von Anfang mitgedacht werden. Was sind die Barrieren am Weg zur Barrierefreiheit?
GT: Drei Dinge werden hier meist hervorgehoben. Die baulichen Gegebenheiten, der Mangel an geschäftlicher Motivation, für Barrierefreiheit Geld auszugeben und, drittens, Unwissen.
VT: Ist es denn auch wirtschaftlich sinnvoll, in Barrierefreiheit zu investieren?
GT: Ja, es gibt einen business-case für den barrierefreien Tourismus. Man sagt, dass Menschen mit besonderen Bedürfnissen länger buchen, weniger saisonabhängig sind und darüber hinaus Ankerwirkung haben, denn sie nehmen ihre Familien mit. Doch freilich wäre es naiv zu glauben, dass der einzelne Unternehmer alleine, einen barrierefreien Tourismus schaffen kann. Dazu braucht es mehr.
VT: Was braucht es denn?
GT: Ein barrierefreies Hotel auf einem Ferienberg, auf den nur eine nicht barrierefreie Seilbahn führt, steht auf verlorenem Posten. Die öffentliche Hand muss solche barrierifizierten Flaschenhälse abschaffen. Barrierefreie Hotels müssen andocken können an ein barrierefreies System. Das reicht vom öffentlichen Verkehr zu Freizeitangeboten, Wanderwegen zu Kulturangeboten etc. Natürlich gehören auch spezialisierte Reiseanbieter wie etwa Runa-Reisen in Deutschland oder Procap Reisen in der Schweiz zu diesem Bild. Letztlich ist eine funktionierende Barrierefreiheit eine Frage des öffentlichen Destinationsmanagements!
VT: Das klingt nach einem langen Weg. Wie war der Ihre?
GT: Wir haben das Haus Himmelfahrt mit 36 Massnahmen für mehr Barrierefreiheit ausgestattet. Die Projektierung ist dadurch etwas komplexer. Die Kosten etwas höher. Man muss sich selbst weiterbilden wollen. Aber wenn man etwas mit Leidenschaft macht, dann wird man anderweitig entschädigt. Ich habe das Gefühl, etwas Sinnvolles zu machen.
VT: Apropos, was motiviert Sie persönlich?
GT: Begegnungen, die Lebensmut machen. So ist etwa der Schweizer Professor Nils Jent soeben bei uns im Haus Himmelfahrt zu Gast. Der mehrfach behinderte Experte für Inklusion strahlt unglaubliche Lebensenergie aus. Den Protagonisten des Films „Unter Wasser atmen“ hier bei uns im Haus Himmelfahrt persönlich zu erleben, ist etwas, das mein Leben bereichert hat.
VT: Was sind Ihre Forderungen an die Tourismuspolitik auf EU-Ebene, um barrierefreies Reisen zu ermöglichen?
GT: In der Europäischen Agenda für den Tourismus 2030 präsentieren die Minister die Barrierefreiheit von Tourismusdienstleistungen als einen von 16 Schwerpunkthemen. Das ist gut. Aber es besteht auch die Gefahr, dass die Barrierefreiheit neben den anderen 15 untergeht. Die Agenda fordert, dass alle Akteure sensibilisiert werden, um die Bedeutung der Barrierefreiheit im Tourismus zu verstehen. Und um dafür zu sorgen, dass die Barrierefreiheit von Tourismusdienstleistungen gefördert wird. Am besten wäre, dass Barrierefreiheit jedes Mal proaktiv mitgedacht wird, wenn das Wort Nachhaltigkeit fällt.
VT: Wie waren Ihre Erfahrungen mit den Behörden?
GT: Eigentlich positiv. Ich habe den Eindruck, dass es in Südtirol durchaus systemisches Bewusstsein für Barrierefreiheit gibt. So gibt es zB mit „Südtirol für Alle“ eine Plattform für barrierefreie Betriebe. Diese werden auf Herz und Niere geprüft bevor Sie mit genauen Angaben wie Türbreiten, Betthöhen etc. in das System aufgenommen werden. Und die Eingaben dieser Plattform sind verbunden mit der offiziellen Tourismuswebsite. Weiters gibt es zB einen Kulturführer für barrierefreie Angebote. Kürzlich hat mich die Gemeinde Ritten angeschrieben, wie man noch mehr Wanderwege in unserer Heimatgemeinde barrierefrei gestalten könnte. Das hat mich schon beeindruckt – es gibt in unserer Gemeinde einen Mitarbeiter, der sich speziell mit dieser Frage beschäftigt. So kann barrierefreier Tourismus vielleicht wirklich noch gelebte Realität werden!
Zur Person:
Gabriel N. Toggenburg ist ein aus Südtirol stammender Jurist, der sich seit 25 Jahren beruflich mit Menschenrechten beschäftigt und seit 2009 für die EU arbeitet. Kürzlich veröffentlichte er einen Fachaufsatz zum Zusammenhang von Barrierefreiheit und Nachhaltigkeit im europäischen Tourismus. Das Thema faszinierte ihn so sehr, dass er das theoretische Thema in die Praxis umsetzen will. Mit seinem „Haus Himmelfahrt“ (www.himmelfahrt.it) im sonnigen Südtirol hat er einen jahrhundertalten Stall zu neuem Leben erweckt. Er versucht mit den entstandenen vier Ferienwohnungen der Barrierefreiheit im Tourismus nicht nur das Wort zu reden, sondern diese auch als role model ganz konkret vorzuleben.
Dieser Beitrag wurde zuerst auf fairunterwegs, dem Portal für faires Reisen veröffentlicht.
Bildnachweis: „Barrierefrei Skifahren“, Aletscharena Lizenz: CC BY-NC-SA 4.0. Zugeschnitten.
Vera Thaler
Fachverantwortliche Nachhaltiger Tourismus, fairunterwegs
Gabriel N. Toggenburg (rechts im Bild), Jurist und Betreiber des Hauses Himmelfahrt in Südtirol, unterhält sich mit seinem Gast Nils Jent, Direktor des Kompetenzzentrums für Diversity und Inklusion an der Hochschule St. Gallen in der Schweiz.
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