Arbeitswelt und Privates gleich streng regulieren

14. Apr 2020 | Gastbeitrag

Interview mit Reto Wyss, Schweizer Gewerkschaftsbund
Welche Auswirkungen hat COVID-19 auf nachhaltige Entwicklung? Die Plattform Agenda 2030 führt eine Reihe von Interviews mit Expertinnen und Experten aus unseren Mitgliederorganisationen.

Welches sind die Prioritäten der Gewerkschaften zur Zeit der Corona-Krise? Welche Forderungen stellen sie?

Alles entscheidend für die Gewerkschaften ist der Schutz der Arbeitnehmenden, und zwar sowohl der wirtschaftliche als auch der gesundheitliche Schutz. In beiden Bereichen hinken wir in der Schweiz noch hinterher.

Wie kann es sein, dass einerseits Jugendliche, die zu sechst Fussball spielen, mit einer Geldstrafe belegt werden, während andererseits besonders gefährdete Arbeitnehmende, wie z.B. eine 60-Jährige Herz-Kreislauf-Erkrankte, ohne jegliche Kontrolle der Arbeitsbedingungen per Notverordnung weiterhin im Tankstellenshop arbeiten muss?

Und wie ist es möglich, dass dem Pflegepersonal einerseits von allen Balkonen im Land zugeklatscht wird, während in den Spitälern gleichzeitig die gesetzlichen Arbeits- und Ruhezeitbestimmungen per Verordnung aushebelt wurden?

Es ist höchste Zeit, dass die Realitäten der Arbeitswelt mit der gleichen Strenge behandelt werden wie diejenigen aller anderen Lebensbereiche. Damit steht und fällt natürlich auch die erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie.

Die Erhaltung der Arbeitsplätze ist ebenfalls ein wichtiges Anliegen. Dafür hat der Bundesrat unterschiedliche Unterstützungsmassnahmen erlassen. Wie schätzt du sie ein?

Der Bundesrat hat in kurzer Zeit viele Ressourcen mobilisiert, um Einkommens- und Stellenverluste kurzfristig zu verhindern, das ist sehr positiv. Mit der massiven Ausweitung der Kurzarbeit und dem über die Erwerbsersatzordnung finanzierten Elternurlaub wurden wichtige Instrumente geschaffen, welche die Gewerkschaften übrigens nicht erst seit der Coronakrise fordern. Es bleiben jedoch gravierende Lücken: Viele Selbstständige – sei es der Gärtner oder die Coiffeuse – haben kaum Einnahmen und fallen zwischen alle Stühle und Bänke. Das Gleiche gilt für die Kitas: Während Grosskonzerne Millionenkredite beantragen können, werden sie vom Bundesrat im Stich gelassen. Hier muss dringend nachgebessert werden.

Sorge machen uns aber vor allem die Entlassungen, welche sich nun in vielen Branchen häufen. Die Arbeitgeber haben vom Bundesrat weitreichende Unterstützung erhalten, um Löhne und Arbeitsplätze garantieren zu können. Nun müssen sie dies auch tun.

Die Konjunkturprogramme kommen möglicherweise auch Unternehmen zugute, die aus Sicht der Nachhaltigkeit eine sehr schlechte Bilanz aufweisen. Viele finden das sehr bedauerlich. Ist das unvermeidbar?

Aufgrund des abrupten Stillstands der Wirtschaft mussten die Überbrückungshilfen möglichst schnell wirksam werden. Dass es dabei schwierig wird, über Nacht auch noch den strukturellen Umbau der Wirtschaft voranzutreiben, ist verständlich. Dennoch mangelt es an vielen simplen Kriterien, die problemlos hätten festgelegt werden können. Beispielsweise haben viele Aktiengesellschaften Kurzarbeit eingeführt und zahlen ihren Aktionären dennoch weiterhin grosszügige Dividenden aus – Verluste dem Staat, Gewinne dem Kapital.

Eine Rettung der Flugbranche, beispielsweise, muss an erheblich strengere Auflagen gebunden sein – aber nicht, ohne den Beschäftigten eine zuverlässige Perspektive zu geben. Dass wirtschaftliche Transformationen schnell gehen können, zeigt sich ja gerade in Krisenzeiten: Wenn Firmen der Maschinenindustrie imstande sind, ihre Produktion innert Tagen auf Schutzmasken umzustellen, dann muss der Umbau in anderen Sektoren über Jahre hinweg doch möglich sein.

Das Interview wurde von Mario Huber geführt.

Weitere Informationen finden Sie auf der Seite vom Schweizer Gewerkschaftsbund: www.sgb.ch/corona-virus

Reto Wyss

Zentralsekretär Ökonomie, Schweizer Gewerkschaftsbund

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