Agenda 2030 auf der Intensivstation

10. Okt 2024 | Gastbeitrag, Institutionen

Die nachhaltigen Entwicklungsziele müssen gerettet werden

Jahrzehntelang zeigte die Kurve der Zahl der Menschen, die unter Hunger leiden und in Armut leben, steil nach unten. 2020 kam die positive Entwicklung ins Stocken. Um diesen Trend wieder umzukehren, hat kürzlich in New York der Zukunftsgipfel stattgefunden. Das von den Ländern verabschiedete Schlussdokument muss für die Regierungen dieser Welt handlungsleitend sein. 

Vor 30 Jahren lebte ein Drittel der Weltbevölkerung, 1,8 Milliarden Menschen in «extremer Armut». 2019 waren es noch knapp 10 Prozent, rund 700 Millionen Menschen – und dies trotz Bevölkerungswachstum. In dieser Zeit verbesserte sich der Zugang zu Bildung und damit die Alphabetisierungsrate. Vielerorts ging die Geburtenrate zurück, während sich gleichzeitig die Lebenserwartung weltweit verbesserte. Zu diesen Erfolgen hat die Entwicklungszusammenarbeit (Official Development Assistance, ODA) im Rahmen der im Jahr 2000 lancierten Millennium-Entwicklungsziele nachweislich beigetragen.

Mit den MDGs wurden ärmere Länder beim Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, bei der Geschlechtergleichheit sowie in Bezug auf Umwelt und Klima unterstützt. So konnten sich in relativ kurzer Zeit mehr als eine Milliarde Menschen aus der extremen Armut befreien. Die grossen Erfolge der Entwicklungsagenda dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass grosse Herausforderungen bestehen blieben. So wurde die Marke der «extremen Armut» bei tiefen 1,90 US-Dollar pro Tag angesetzt. Was aber ist mit Menschen, die nur knapp darüber liegen und kaum über die Runden kommen? Hinzu kommt, dass der Fortschritt ungleichmässig auf die Weltregionen verteilt war.

Die MDGs wurden auch kritisiert: Sie seien zwar im Rahmen der UNO gemeinsam verabschiedet worden, doch die reichen Nationen hätten den ärmeren Regierungen die Entwicklungsziele vorgeschrieben. Die betroffenen Länder hätten nicht selbst ihre Ziele definieren können, die sie für richtig und wichtig gehalten hätten.

Ende des Nord-Süd-Gegensatzes?

Weil nicht alle Millenniumsziele erreicht wurden, entwickelte die Weltgemeinschaft 2015 als Folgeinitiative die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Sie löste das starre Nord-Süd-Denken auf, und es kam zu einer bemerkenswerten Verschiebung: Weg von der engen Ausrichtung auf die Bekämpfung von Armut und Hunger, Krankheiten und Umweltschäden im Globalen Süden hin zu einer umfassenden Nachhaltigkeitspolitik, die sämtliche Länder in die Pflicht nahm. Mit den 17 nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals, SDG) rückte der soziale und ökologische Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft unter Einhaltung der planetaren Belastungsgrenzen ins Zentrum der entwicklungspolitischen Bemühungen.

Erstmals nahm die Agenda auch reiche Länder wie die Schweiz in die Pflicht. Regierungen im Globalen Norden wurden aufgefordert, ihre Finanz- und Steuerpolitik, ihre Umwelt- und Klimapolitik, ihre Handels- und Ernährungspolitik «future proof», also zukunftsgerecht und weltverträglich auszugestalten (SDG 17).

Mit der Agenda 2030, die universell gültig ist, einigte sich die Weltgemeinschaft ausserdem auf eine bessere Vertretung und verstärkte Mitsprache ärmerer Länder in den internationalen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen – mit dem Ziel, deren Wirksamkeit, Glaubwürdigkeit und Legitimation zu erhöhen (SDG 10). Ebenso wurde vereinbart, die Steuervermeidung transnationaler Unternehmen und Steuerhinterziehung von schwerreichen Individuen zu unterbinden (SDG 16).

Ist der Frieden unterfinanziert?

Das war 2015; die Welt ist heute eine andere. Der Hunger nimmt wieder zu wegen gewaltsamer Konflikte, zunehmender Wetterextreme und Covid-19. Die meisten Entwicklungsländer konnten wegen klammer Staatshaushalte keine ausreichenden Corona-Stützungsprogramme aufgleisen. Gleichzeitig gibt es in den Ländern seit jeher keine adäquate soziale Grundsicherung, womit sich die weltweite Ungleichheit perpetuiert.

Mit dem völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine verschlechterte sich die Lage zusätzlich. Der Krieg und damit verbundene geopolitische Implikationen provozieren eine weltweite Aufstockung der Rüstungsetats, während gleichzeitig die internationale Unterstützung im Wiederaufbau des Landes Gelder in Milliardenhöhe benötigen wird. Mittel, die weltweit für wichtige Investitionen beispielsweise in die soziale Wohlfahrt, in Wind- und Sonnenenergie, in Klimaanpassung und die Entwicklungszusammenarbeit fehlen werden.

Die weltweiten Militärausgaben erreichten 2023 einen historischen Rekordwert von 2’443 Milliarden US-Dollar. Einen Bruchteil davon, insgesamt 193 Milliarden (ohne Asylkosten in den eigenen Ländern) setzt die Staatengemeinschaft pro Jahr für die Internationale Zusammenarbeit ein, also für humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit, friedensfördernde und menschenrechtspolitische Ansätze, Klimaschutz und Anpassungsleistungen in ärmeren Ländern. Bereits 2009 sagte UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon: «Die Welt ist überbewaffnet, und der Frieden ist unterfinanziert.» Heute stimmt diese Aussage mehr denn je.

Zukunftspakt handlungsleitend für die Länder

Der Staatengemeinschaft ist bewusst, dass die Agenda 2030 in der Halbzeit bereits arg im Rückstand liegt. UNO-Generalsekretär Guterres lud deshalb vor wenigen Tagen zum Summit of the Future in New York, um einen Zukunftspakt zu schliessen. Damit sollen Regierungen und die Zivilgesellschaft die Agenda 2030 wieder in den Fokus rücken. Auch die Schweiz verpflichtete sich: In ihrer Rede betonte Bundespräsidentin Viola Amherd, der Pakt sei ein starkes Bekenntnis zum Multilateralismus. «Eine seiner Schlüsseldimensionen ist die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Sie ist unser Fahrplan, den wir gemeinsam und so rasch wie möglich umsetzen müssen.» Angesichts des grossen eigenen Nachholbedarfs, trägt die Schweiz eine nicht zu unterschätzende globale Verantwortung.

Mit der Zustimmung zum Zukunftspakt bestätigt (auch) die Schweiz, dass eine militärische Aufrüstung nicht auf Kosten von langfristigen Investitionen in internationale Zusammenarbeit und nachhaltige Entwicklung gehen darf. Oder im Wortlaut des Pakts: «Wir anerkennen die gegenseitige Abhängigkeit von internationalem Frieden und Sicherheit, nachhaltiger Entwicklung und Menschenrechten und bekräftigen die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit auf internationaler und nationaler Ebene. Wir sind besorgt über die möglichen Auswirkungen, die der weltweite Anstieg der Militärausgaben auf Investitionen in nachhaltige Entwicklung und die Erhaltung des Friedens haben könnte. […] wir beschliessen, dafür zu sorgen, dass Militärausgaben die Investitionen in die nachhaltige Entwicklung nicht beeinträchtigen […]».

Dieses Bekenntnis sollte auch für das Schweizer Parlament handlungsleitend sein, wenn es im Winter über die Finanzierung von Armee, Klimaschutz und Internationaler Zusammenarbeit berät und entscheidet.

 

Dieser Beitrag wurde zuerst auf Politsichten, dem entwicklungspolitischen Blog von Helvetas veröffentlicht.

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Patrik Berlinger

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