Agenda 2030 und Menschenrechte
Matthias Hui, humanrights.ch | Eva Schmassmann, Plattform Agenda 2030
Mai 2021
Als die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung von der UNO-Generalversammlung verabschiedet wurde, fanden sich Menschenrechtsorganisationen in einem Dilemma gegenüber diesem globalen Referenzrahmen, der den Weg in eine nachhaltige Zukunft weisen sollte. Die Agenda 2030 schuf keinen rechtlich verbindlichen Rahmen, sondern stellte eine freiwillige Selbstverpflichtung der Staaten dar. Auf welches Pferd wollte man setzen: Auf eine Agenda 2030 mit gemeinsamer Vision, ambitionierten Zielen und systemischen Antworten? Oder auf die etablierten, rechtlich verbindlichen Menschenrechtsabkommen?
Das Dänische Institut für Menschenrechte löste mit seiner Grundlagenarbeit das Dilemma auf: Es analysierte die Ziele für Nachhaltige Entwicklung (SDGs) und die entsprechenden Unterziele im Vergleich zu bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen. Die Analyse ergab, dass nahezu alle Unterziele eine völkerrechtliche Entsprechung haben und ihre Umsetzung also mitnichten nur auf Freiwilligkeit beruht. Der dänische «Human Rights Guide to the SDGs» (sdg.humanrights.dk) verlinkt jedes SDG und jedes Unterziel mit den entsprechenden Artikeln aus den UNO-Menschenrechtspakten, der UNO-Frauenrechtskonvention, der UNO-Behindertenrechtskonvention, der UNO-Kinderrechtskonvention, den ILO-Konventionen, der Biodiversitätskonvention, dem Pariser Klimaübereinkommen und weiteren Abkommen. Damit wurde klar: SDGs und Menschenrechte sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Wenn wir die Menschenrechte umsetzen, tragen wir gleichzeitig zur Erreichung der Ziele der Agenda 2030 bei.
Das steht in der Agenda 2030
Die Agenda selber gründet explizit auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den internationalen Menschenrechtsverträgen. Für die starke Verankerung der Agenda 2030 in menschenrechtlichen Prinzipien haben sich viele staatliche und nicht-staatliche Akteure eingesetzt. Auch die Schweiz.
Bereits in der Präambel setzt die Agenda 2030 das Ziel, «die Menschenrechte für alle zu verwirklichen». Sie will eine Welt schaffen, «in der die Menschenrechte und die Menschenwürde, die Rechtsstaatlichkeit, die Gerechtigkeit, die Gleichheit und die Nicht-Diskriminierung allgemein geachtet werden». Die Kernverpflichtung der Agenda 2030 ist menschenrechtsbasiert: Niemanden zurücklassen!
Wie die Menschenrechte ist auch die Agenda 2030 universell gültig, das heisst, sie muss auf der ganzen Welt, für alle Menschen, umgesetzt werden. Die darin festgelegten Ziele müssen gemeinsam erreicht werden, sie sind also auch unteilbar: Staatliche und private Akteure können sich nicht einzelne, leicht zu erreichende Ziele wie Rosinen herauspicken, sondern müssen sich auch den herausfordernden Zielen stellen. Die weiteren menschenrechtlichen Kernprinzipien sind in der Agenda 2030 sowohl als Ziele als auch in der Umsetzung verankert: Die Agenda stellt die Inklusion ins Zentrum und betont Gerechtigkeit und Nicht-Diskriminierung. Geschlechtergleichstellung erhält als Querschnittsthema wie als Einzelziel (SDG 5) eine zentrale Bedeutung, ebenso die Verringerung von Ungleichheit (SDG 10). Rechtsstaatlichkeit und Zugang zur Justiz werden in SDG 16 explizit gefordert. Sie sind – nebst demokratischer Teilhabe, guter und transparenter Regierungsführung, Zugang zu Information und persönlicher Sicherheit – die Grundlage für friedlichere, gerechtere und inklusivere Gesellschaften. Follow-up und Berichterstattung zur Agenda 2030 sind partizipativ, transparent und inklusiv zu gestalten.
Die Agenda 2030 bietet keine unabhängige Überprüfung der Umsetzung der SDGs in einzelnen Staaten. Die Staaten können sich freiwillig und wiederkehrend einer Überprüfung stellen, und anlässlich des Hochrangigen Politischen Forums (HLPF), das jährlich stattfindet, einen Länderbericht einreichen und sich der – naturgemäss wenig kritischen – Diskussion stellen. Weltweit setzen sich NGOs dafür ein, stärker in diese Prozesse eingebunden zu werden und offiziell ihre alternative Darstellung zu den im nationalen Interesse schöngefärbten Länderberichten einreichen zu können. Die Schweiz überliess am HLPF 2018 die Hälfte der Redezeit einer Vertreterin der Jugend. Erste Staaten, darunter z.B. Finnland, haben eingewilligt, den NGOs auch in ihrem offiziellen Bericht Platz für die zivilgesellschaftliche Sicht zum Stand der Umsetzung einzuräumen.
Und die Schweiz?
Auch die Schweiz steht seit der Verabschiedung der Agenda 2030 vor fünf Jahren vor der Herausforderung, Menschenrechte und die Agenda 2030 in allen Politikbereichen strategisch, rechtlich und institutionell miteinander zu verschränken, diese entsprechend umzusetzen und darüber Rechenschaft abzulegen.
In der Bundesverwaltung sind die Zuständigkeiten zur Umsetzung der Agenda 2030 weitgehend getrennt von jenen für menschenrechtliche Verfahren. Die beiden Delegierten des Bundesrats für die Agenda 2030 sind unterschiedlichen Departementen angehörig: Das Amt für Raumentwicklung (ARE), angesiedelt im Umweltdepartement, ist primär zuständig für die Erarbeitung der Strategie Nachhaltige Entwicklung. Die Abteilung Wohlstand und Nachhaltigkeit im Aussendepartement übernimmt den Lead für die Berichterstattung zuhanden der UNO. Im Direktionskomitee Agenda 2030 (dem strategischen Steuerungs- und Koordinationsorgan für die Umsetzung der Agenda 2030 auf Bundesebene) sind nur sehr wenige Ämter vertreten, die bei der Umsetzung der Empfehlungen aus den menschenrechtlichen Verfahren eine zentrale Rolle spielen. Eine Verzahnung des Direktionskomitees mit der interdepartementalen Kerngruppe Internationale Menschenrechtspolitik (KIM) scheint nicht gegeben.
Diese institutionell unbefriedigende Situation führt zu Unklarheiten, Reibungsverlusten und parallelen Prozessen. Sie schwächt die Kohärenz für nachhaltige Entwicklung. Folgeabschätzungen für Gesetze und Prozesse, etwa im Bereich Freihandelsabkommen, müssten bezüglich menschenrechtlicher Kohärenz und Nachhaltigkeit systematisch zusammengeführt werden.
Handlungsbedarf
Der Überprüfungsmechanismus zur Umsetzung der Agenda 2030 basiert, wie erwähnt, auf Freiwilligkeit. Im letzten Länderbericht der Schweiz von 2018 wurde durchaus Handlungsbedarf anerkannt, aber aufgrund seiner Kürze ist er im Konkreten nicht sehr hilfreich.
Die Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030, welche der Umsetzung der Agenda 2030 dienen soll, bringt im vernehmlassten Entwurf durchaus wichtige Punkte auf, doch leitet sie nur ungenügend Ziele daraus ab. Sie stellt auch keinen systematischen Zusammenhang zu den den SDGs zugrundeliegenden völkerrechtlichen Verpflichtungen her.
Zur Identifizierung des Handlungsbedarfs können wir aufgrund der Verschränkung der SDGs mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen auch auf die Überprüfungsmechanismen der internationalen Menschenrechtsorgane zurückgreifen. Diese stellen der Schweiz nicht nur gute Zeugnisse aus.
Die allgemeine Überprüfung durch den UNO-Menschenrechtsrat 2018 zeigt u.a. grosse Lücken im Diskriminierungsschutz, die Notwendigkeit eines wirksamen Mechanismus zur Kontrolle der Tätigkeit von Schweizer Konzernen im Ausland oder massive Defizite im Asylbereich auf.
Der UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ermahnte die Schweiz 2019, diese Rechte endlich nicht nur als programmatische Ziele zu betrachten, sondern als verbindliche Verpflichtungen. Der Ausschuss kritisiert beispielsweise fehlende Betreuungsmöglichkeiten für viele Kinder, die Nichteinhaltung der Verpflichtung, 0.7% des Bruttonationalprodukts für Entwicklungszusammenarbeit zu verwenden, sowie das Fehlen einer menschenrechtlichen Folgenabschätzung bei Freihandelsabkommen. Besonders interessant ist die Kritik an der zu ambitionslosen Klimapolitik der Schweiz: Die UNO-Menschenrechtsorgane verstehen Klimapolitik auch als Menschenrechtspolitik.
Der Schaffung einer Nationalen Menschenrechtsinstitution (NMRI) kommt eine wichtige Rolle zu. Das Parlament berät derzeit einen Gesetzesvorschlag des Bundesrats. Gemäss den von der UNO-Generalversammlung verabschiedeten Pariser Prinzipien muss eine NMRI unabhängig arbeiten können und mit genügend Mitteln ausgestattet sein. Der Bundesrat sieht gerade mal einen jährlichen Bundesbeitrag von CHF 1 Mio. vor – eine sträfliche Relativierung seines Engagements für die Agenda 2030. Die Existenz einer starken NMRI ist ein globaler UNO-Indikator zur Erreichung von SDG 16. NMRIs in vielen anderen Staaten zeigen längst, dass sie durch Beratung von Behörden auf nationaler und regionaler Ebene sowie der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft, aber auch durch die kritische Dokumentierung der Umsetzung der Menschenrechte, Menschenrechtsbildung und internationale Kooperation einen wesentlichen Beitrag leisten zur transparenten, inklusiven und menschenrechtsbasierten Umsetzung der Agenda 2030.
Das fordern wir
- Die Schweiz stellt die Empfehlungen der Menschenrechtsorgane der UNO und des Europarats systematisch in Zusammenhang mit der Agenda 2030 und setzt sie konsequent um.
- Die Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 anerkennt die den SDGs zugrundeliegenden völkerrechtlichen Verpflichtungen und setzt die Agenda 2030 systematisch und konsequent menschenrechtsbasiert um. Dabei misst sie dem Prinzip «Niemanden zurücklassen» eine Schlüsselrolle zu.
- Zur Stärkung der menschenrechtlichen Kohärenz wird ein interdepartementales Querschnittsorgan auf Direktionsebene geschaffen. Dieses koordiniert die Umsetzung der Empfehlungen der Menschenrechtsorgane der UNO und des Europarats und arbeitet eng mit dem Direktionskomitee Agenda 2030 zusammen.
- Die Schweiz schafft eine starke Nationale Menschenrechtsinstitution. Die Institution arbeitet unabhängig und ist mit genügend Mitteln ausgestattet.
- Menschenrechtliche Kohärenz und damit auch Nachhaltigkeitsverträglichkeit in der Aussenpolitik der Schweiz – weit über die Tätigkeiten des EDA hinaus – werden durch politische Strategien, parlamentarische Verfahren, Menschenrechtsverträglichkeitsprüfungen und Monitoring konsequent eingefordert und umgesetzt.
- Die Schweiz als globaler Finanz- und Rohstoffhandelsplatz setzt sich auf internationaler Ebene für menschenrechtliche Sorgfaltspflichten und Haftungsregelungen für Unternehmen ein.
- Der gesetzliche Diskriminierungsschutz wird mit dem Leitprinzip der Agenda 2030 „niemanden zurücklassen“ auf der Ebene von Bund und Kantonen systematisch gestärkt.
- Die Umsetzung und Berichterstattung zur Agenda 2030 wird partizipativ gestaltet. Organisationen der Zivilgesellschaft, u.a. Menschenrechts-, Entwicklungs- und Umweltorganisationen sowie Gewerkschaften, können sich im offiziellen Länderbericht direkt mit eigener Stimme einbringen.
Weiterführende Links und Quellen
The Human Rights Guide to the Sustainable Development Goals https://sdg.humanrights.dk/
humanrights.ch: Informationsplattform zu Menschenrechten und ihrer Umsetzung in der Schweiz.
Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, CBM Schweiz. Factsheet zur Agenda 2030 und den Rechten von Menschen mit Behinderungen.
Sustainable Development Goals and Human Rights. Hrsg. von Markus Kaltenborn, Markus Krajewski, Heike Kuhn; Springer Open 2020. Buch im Open Access.
National Human Rights Institutions: Accelerators, Guarantors and Indicators of Sustainable Development. Publikation von The Danish Institute for Human Rights/Global Alliance of National Human Rights Institutions (GANHRI): National Human Rights Institutions.
Schaffung einer Nationalen Menschenrechtsinstitution NMRI. Factsheet NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz.
Die Agenda 2030 und ihre 17 Ziele
Mit der Agenda 2030 und ihren 17 SDGs hat sich die Staatengemeinschaft 2015 auf eine Zukunftsvision einer Welt in Frieden geeinigt, in der niemand Hunger leiden muss, die Ökosysteme an Land und im Wasser geschützt sind und Konsum und Produktion die planetaren Grenzen nicht überschreiten. Die Agenda ist in den Menschenrechten begründet und durch ihren universellen und unteilbaren Charakter mit diesen verwandt. Das Leitmotiv der Agenda 2030, «Leave no one behind», ist letztlich eine menschenrechtliche Verpflichtung.