«Zieht sich die Schweiz zurück, schwindet auch ihr Einfluss»
Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) sei weltweit ein wirksamer und willkommener Kooperationspartner, sagt dessen Leiter Achim Steiner. Er ist aber besorgt über die abnehmende Unterstützung von Ländern wie der Schweiz. Interview von Laura Ebneter, Marco Fähndrich und Andreas Missbach (Alliance Sud)
«global»: Herr Steiner, Sie sind in Brasilien als Sohn von deutschen Eltern aufgewachsen: Wie hat Sie diese Bi-Nationalität geprägt?
Achim Steiner: Die Erfahrung, in verschiedenen Ländern und Kulturen aufzuwachsen, ist etwas sehr Befreiendes. Ich habe dadurch einen Weg gefunden, mich überall auf der Welt zuhause zu fühlen und arbeiten zu können. Zudem habe ich gelernt, die Welt aus anderen Perspektiven zu sehen. Vieles, was heute auf der Welt schiefläuft, hat damit zu tun, dass wir einander nicht wirklich verstehen. Wenn ich aber einen Inselstaat im Pazifik oder einen Karibikstaat besuche, ist sofort klar, wie sehr das Leben dort von der Klimapolitik im Rest der Welt abhängig ist.
Das UNDP stellt in seinem «Human Development Report 2024» fest, dass ungleiche Entwicklungsfortschritte die Ärmsten dieser Welt zurücklassen – das Gegenteil des Ziels der Agenda 2030, «leaving no one behind». Wo sehen Sie die grössten Hebel, damit sich die Schere nicht weiter öffnet?
Vor dem Hintergrund der Pandemie und der vielen Krisen und Konflikte ist die Bilanz auf den ersten Blick ernüchternd. Wir hatten uns mit der Agenda 2030 grosse Ziele gesetzt. Aber wie so oft macht man Pläne und es gibt Rückschläge. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass es in den letzten Jahrzehnten auch enorme Fortschritte gab, die leider in der Öffentlichkeit nicht so wahrgenommen werden. 1995 hatten sechzehn Millionen Menschen Zugang zum Internet, nun sind es fast sechs Milliarden. Auch der Zugang zur Stromversorgung hat sich massiv verbessert. Die internationale Zusammenarbeit hat dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet…
… und doch ist es ein schwacher Trost angesichts der multiplen Krisen weltweit.
Auch das stimmt. Wir stehen vor der Situation, dass die ärmsten Länder ihre Schulden nicht mehr tilgen können, so zum Beispiel Sri Lanka. Es gibt fast 50 Staaten, die mehr als 10% des Staatsbudgets nur für den Schuldendienst ausgeben. Deshalb erleben wir, dass in der Bildung und Gesundheit gekürzt wird, um die Zinsen zu zahlen; das kann der Entwicklung nicht förderlich sein. Und wenn ein Land seine Bevölkerung nicht mehr mit Nahrungsmitteln und Treibstoff versorgen kann, gehen die Menschen auf die Strasse.
Vor Ihrer Arbeit für das UNDP waren Sie Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen UNEP. Wie ergänzen sich diese Institutionen?
Das UNEP ist eine Brücke zwischen Wissenschaft und Politik; es prägt die internationalen Normen. Mit dem Montreal-Protokoll hat das UNEP einen der wichtigsten Erfolge der internationalen Umweltpolitik ermöglicht, um die Ozonschicht zu reparieren. Das UNDP hat einen anderen Fokus und steht über 170 Ländern zur Seite, um ihren eigenen Entwicklungsweg zu unterstützen, sowohl sozial, wirtschaftlich als auch umweltpolitisch. Ich habe mich sehr lange mit Umweltthemen befasst, und durch die Ernennung zum Leiter des UNDP hat sich ein Kreis geschlossen: Umwelt und Entwicklung zusammenzuführen, denn die grösste Herausforderung unserer Zeit ist es, wie acht Milliarden Menschen nachhaltig und in Frieden zusammenleben können.
Gerade jetzt wären mehr Investitionen nötig. Und doch kürzen die Geberländer ihre Mittel…
Die reichen Länder der OECD geben nur gerade 0,37% ihres Bruttonationaleinkommens für die internationale Zusammenarbeit aus. Vor dem Hintergrund der enormen Aufgaben und Möglichkeiten unserer Zeit bereitet mir grosse Sorge, dass wir vor allem auch in den traditionellen Geberländern nicht die nötigen Mittel finden, um arbeiten zu können. Dies obwohl wir gezeigt haben, wie viel mehr wir miteinander erreichen können.
Was ist ihr Appell an die Politik?
Parlamentarier:innen müssen eine ehrliche Diskussion über die internationale Zusammenarbeit führen und erkennen, dass nationale Interessen zunehmend im globalen Kontext vertreten werden. Regierungen handeln mit politischem Opportunismus und das Sich-Abwenden von gemeinsamen Lösungen ist sehr kurzgedacht und letztlich verantwortungslos. Nehmen wir den Klimawandel: Da geht es nicht mehr darum, ob es ihn gibt, sondern wie wir in allen Ländern etwas dagegen tun können. Es ist ein Versagen, dass wir diese Zusammenhänge nicht klarer darstellen können, dass wir in vielen Ländern weiterhin auf fossile Energien setzen, statt die erneuerbaren zu fördern. Wobei wir wissen, dass inzwischen jedes Jahr Tausende Menschen in der Schweiz, in Deutschland und weiteren europäischen Ländern wegen der Hitze frühzeitig sterben.
Wird international wahrgenommen, dass auch die Schweiz ihr Engagement reduziert?
Bis vor fünf Jahren war die Schweiz ein Vorbild in der internationalen Zusammenarbeit: Sie erkannte die Wichtigkeit des Multilateralismus gerade für ein kleines Land. Leider hat die Schweiz ihre Beiträge an das UNDP sukzessive reduziert, auch wenn sie immer noch ein wichtiges Geberland ist. Die Handlungsspielräume der kleinen Länder tendieren ohne die Vereinten Nationen in Krisengebieten gegen Null. Die Schweiz hat seit ihrem Beitritt zur UNO eine strategische Rolle gespielt. Wenn sie sich zurückzieht, schwinden auch ihre Reputation und ihr Einfluss.
Welche Rolle spielt die zunehmende Polarisierung in der Welt?
Die Polarisierung verhindert die internationale Zusammenarbeit und führt in eine Sackgasse. Meine grösste Sorge ist, dass die Welt zunehmend auseinanderdriftet, anstatt zu kooperieren. Im letzten Jahr wurden 2‘443 Milliarden Dollar für die Verteidigung und das Militär ausgegeben. Das ist nicht nur ein historischer Rekord, sondern auch ein Zeichen, dass die Konfrontation zunimmt. Dafür gibt es konkrete Anlässe wie der Krieg in der Ukraine und Konflikte in Myanmar oder Sudan. Die Probleme der Welt sind aber nur lösbar, wenn die verschiedenen Länder trotz unterschiedlicher Interessen ein gemeinsames Handeln finden, sei es bei der Prävention der nächsten Pandemie, bei der Cybersecurity oder beim Klimawandel.
Was für Auswirkungen hat der Krieg in der Ukraine auf die Arbeit des UNDP?
Im Unterschied zu den politischen Instanzen der UNO, wie zum Beispiel dem Sicherheitsrat, haben wir den Vorteil, dass wir in allen Ländern der Welt als Partner willkommen sind. Es ist erstaunlich, mit welchem Vertrauen wir in den Partnerländern empfangen werden, vor allem weil wir keine Eintagsorganisation sind. Wir begleiten gewisse Länder seit Jahrzehnten und diese Kooperationen zeigen, dass internationale Zusammenarbeit nicht unbedingt politisiert werden muss, sondern ein Angebot darstellt, um den eigenen Entwicklungsweg zu begleiten. Ich erlebe es gerade mit Bangladesch, wo wir über Jahre mit verschiedenen Regierungen zusammengearbeitet haben. Auch in der aktuellen Krisensituation mit der Übergangsregierung von Muhammad Yunus ist die Zusammenarbeit mit dem UNDP nicht in Frage gestellt worden. Das Versprechen der UNO, dass die Länder auf das UNDP zählen können, um den Gedanken der internationalen Zusammenarbeit sehr konkret umzusetzen, bleibt ein positives Element.
Und trotzdem kämpft auch das UNDP mit finanziellen Sorgen.
Die Suche nach Finanzierungsquellen wird immer scheitern, wenn wir nicht ein grundlegendes Vertrauen in internationale Institutionen haben. Leider gerät die UNO immer wieder ins Kreuzfeuer nationaler Kritik, zum Beispiel bezüglich Gaza. Es bereitet uns Sorgen, dass sich viele Länder mit zweifelhaften Argumenten bilateralisieren und aus dem Multilateralismus zurückziehen. So hat zum Beispiel Grossbritannien seine bereitgestellten Gelder drastisch gekürzt, um die Asylkosten im Inland zu finanzieren. Das hat uns in Schwierigkeiten gebracht, weil eine Organisation wie das UNDP eine solide Kernfinanzierung braucht, um transparent, wirksam und rechenschaftspflichtig zu handeln. Noch 1990 waren 50% der Mittel ungebundene, frei verfügbare Mittel, heute sind es nur 11% des Umsatzes. So etwas kann eine Organisation auf Dauer nicht halten. Wir verlieren so eine der wichtigsten Plattformen überhaupt, die in einer spannungsgeladenen Welt trotzdem noch Kooperationen ermöglicht.
Warum hat die IZA in den letzten Jahren an Glaubwürdigkeit verloren?
IZA ist kein Labor, sondern der Versuch, Lösungen oft unter schwierigsten Umständen zu finden. 50% der Arbeit findet in Krisengebieten statt: Yemen, Afghanistan, Myanmar sind alles hochriskante Regionen, wo wir versuchen, Leben zu retten. Dass nicht immer alles wie geplant läuft oder sogar etwas schiefläuft, ist einfach Realität. Leider ist die Bereitschaft der Geber, auch Rückschläge mitzutragen, sehr gering.
Haben Sie eine Vermutung, weshalb die Entwicklungszusammenarbeit immer wieder mit Falschaussagen und zu hohen Ansprüchen konfrontiert ist?
Es gibt leider eine konzertierte Offensive gegen die IZA, von den USA über Skandinavien bis in die deutschsprachigen Länder. Es ist eine politische Kampagne, die versucht, die internationale Zusammenarbeit in nationalen Kontexten zu delegitimieren, zum Beispiel die von Deutschland unterstützten Fahrradwege in Peru, die in vielen Medien breitgeschlagen wurden. Diese Beispiele verzerren den Blick, aber es ist auch unsere Bringschuld, unsere Arbeit besser und verständlicher zu vermitteln.
Haben Sie eine positive Botschaft zum Schluss?
Die Vereinten Nationen stellen über ihr Welternährungsprogramm (WFP) jedes Jahr Nahrungsmittelhilfe für rund 115 Millionen Menschen bereit. Das ist nur möglich dank Mut, internationaler Solidarität und dem Einsatz unserer Mitarbeitenden und Partner vor Ort.
Dieser Artikel erschien ursprünglich im „global“ #95 Herbst 2024 von Alliance Sud.
Bildnachweis: Zuhören als humanitäre Mission: Achim Steiner (zweiter von links) zu Besuch in der kriegsversehrten Ukraine. © UNDP
UNDP: Im Einsatz für nachhaltige Entwicklung
Das UNDP wurde 1965 gegründet und ist in über 170 Ländern und Territorien tätig. Das Hauptmandat besteht darin, zur Erreichung der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) beizutragen. Das UNDP unterstützt Partnerländer in drei wesentlichen Bereichen des Wandels: strukturelle Transformation, niemanden zurücklassen und Resilienzaufbau. Mit Ausgaben von rund 5 Mrd. US-Dollar jährlich ist das UNDP das grösste Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen. Die Schweiz stellte dem UNDP im letzten Jahr 89 Millionen USD zur Verfügung.
Achim Steiner
Achim Steiner, geboren 1961, wuchs in Brasilien und Deutschland auf und studierte Philosophie, Politik und Ökonomie an der University of Oxford. An der University of London erwarb er einen Master-Abschluss in Ökonomie und Regionalplanung. Zudem absolvierte er Studienaufenthalte am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in Berlin und an der Harvard Business School.
Achim Steiner war Direktor der Weltnaturschutzunion (IUCN) und arbeitete bei der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Zwischen 2006 und 2016 leitete er das UNO-Umweltprogramm (UNEP) in Nairobi und den dortigen UN-Sitz (UNON). Seit Mai 2017 ist Achim Steiner Untergeneralsekretär des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) in New York. Im Jahr 2021 wurde er von der UN-Generalversammlung für eine zweite vierjährige Amtszeit als UNDP-Leiter bestätigt.
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