Dekolonisierung der Agenda 2030? Die Zivilgesellschaft in der Verantwortung

17. Jan 2024 | Institutionen, Politikkohärenz, Ressourcen

Die Dekolonisierungsdebatte ist auch für die Umsetzung der Agenda 2030 von Relevanz: Die SDGs sollten in ihrer Gesamtheit einen Beitrag leisten, um Gleichheit und Chancengerechtigkeit (Equity) weltweit zu stärken. Gleichzeitig kann keines der SDGs erreicht werden, wenn Gleichheit und Chancengerechtigkeit (SDG 10) nicht ins Zentrum der Aktivitäten gerückt werden. Vor diesem Hintergrund müsste der Dekolonisierungsanspruch im Herzen der Agenda 2030 liegen. Tut sie das auch?

Die Plattform Agenda 2030 hat Ende 2023 ein neues virtuelles Austauschgefäss lanciert. In diesem Rahmen sollen die Mitglieder der Plattform künftig die Möglichkeit haben, sich zu verschiedenen Themen der Agenda 2030 auszutauschen. Wichtig dabei ist der plattform-interne Charakter, damit auch selbstkritische Reflexionen und Diskussionen zur eigenen Rolle in der Umsetzung der Agenda 2030 stattfinden können.

Mit der Dekolonisierung der SDGs hat die Plattform ein solches Thema angepackt. Auf Einladung der Mitarbeiter:innen von HEKS, Frieda – der feministischen Friedensorganisation und Medicus Mundi Schweiz diskutierten rund 20 Kolleg:innen aus weiteren Organisationen darüber, welche Rolle die Dekolonisierungsdebatte innerhalb unserer zivilgesellschaftlichen Arbeit hier in der Schweiz spielt.

Die Forderung nach einer Dekolonisierung bestehender Strukturen ist vor allem innerhalb der internationalen Zusammenarbeit seit einiger Zeit ein Thema. Diese selbstkritische Auseinandersetzung beruht im Wesentlichen auf den Erkenntnissen der Postcolonial Studies sowie dem Engagement antirassistischer sozialer Bewegungen, wie der Black live matters Bewegung, die aufzeigen konnten, dass der Kolonialismus nicht nur die Gesellschaften des globalen Südens, sondern auch die des globalen Nordens geprägt hat. Dabei haben sich Strukturen ausgebildet, die bis heute die globalen Machtverhältnisse und auf Rassismus basierende Wahrnehmungen prägen.

In der internationalen Zusammenarbeit angekommene Debatte

Aus dieser Analyse haben sich für den Sektor der internationalen Zusammenarbeit verschiedene Fragestellungen ergeben, darunter die folgenden: Wie überwindet der Sektor diese Machtverhältnisse? Wie lassen sich Entscheidungskompetenzen vom globalen Norden in den globalen Süden transferieren? Wie kann der Sektor strukturellem Rassismus und Geschlechterungleichheit entgegenwirken?

Während also die Dekolonisierungsdebatte in der internationalen Zusammenarbeit, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität und Offenheit, geführt wird, wurde im virtuellen Austausch diskutiert, welche Relevanz diese Debatte für die Umsetzung der SDGs hat.

Klar ist, dass die Agenda 2030 als solche in Abgrenzung zu den Millenniumsentwicklungszielen der UNO entwickelt wurde. Diese zeichneten sich dadurch aus, dass es sich im Grunde um ein «Entwicklungsprogramm» handelte, das Ziele des globalen Nordens für den globalen Süden festlegte. Im Gegensatz dazu hat die Agenda 2030 einen klar universellen Anspruch für einen globalen Rahmen, um drängende soziale, wirtschaftliche und ökologische Herausforderungen anzugehen.

Wer bestimmt den universellen Charakter der SDGs?

Es besteht die Kritik, dass solche Systeme „internationaler Standards“ einen eurozentrischen Charakter haben. Auch an den SDGs wird teilweise kritisiert, dass sie eine universalistische Agenda fördern, die von den Interessen des globalen Nordens geprägt ist. Damit wird auch auf die bei internationalen Verhandlungsprozessen einwirkenden Machtverhältnisse angespielt.

Zentral für die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe bei der Umsetzung der Agenda 2030 ist das für die Geschlechtergerechtigkeit und Antirassismus zentrale Konzept des «Othering». Dieses beschreibt einen Prozess, bei dem eine Gruppe von Menschen als von Natur aus anders oder fremd behandelt wird. Der Kolonialismus nutzte das rassistische Othering, um eine binäre Trennung zwischen weissen Europäer:innen und dem Rest der Welt zu schaffen – eine Trennung zwischen «überlegen» und «minderwertig», zwischen «normal» und «anders», zwischen «zivilisiert» und «unzivilisiert».

Othering: «Wir» und «die Anderen»

Othering ist unter anderem mit einem paternalistischen und rassistischen Diskurs verbunden, in dem der „entwickelte“ Westen als handlungsfähig positioniert wird. Sie «helfen» denjenigen in «Entwicklungsländern», die nicht in der Lage sind, sich selbst zu helfen. Eine weitere Form des Othering kann auch darin bestehen, die Probleme in den Ländern des Südens hervorzuheben, während die Probleme im Norden ignoriert oder heruntergespielt werden.

Hier schliessen sich Fragen an: Inwiefern prägt der Diskurs des Othering auch die SDGs und wenn ja, wie? Erhalten Probleme, die auch Länder des Nordens betreffen, die Aufmerksamkeit, die sie verdienen, wie beispielsweise exzessiver Konsum und Aneignung von Ressourcen, Rassismus, geschlechtsspezifische Gewalt, Militarisierung von Grenzen, Ausgrenzung, umfassender Frieden, Zugang zu gleichen Rechten? Wird das transformative Potenzial marginalisierter Stimmen international und in der Schweiz gehört und können sie dazu beitragen, die SDGs zu erreichen?

Diskussion: Machtverhältnisse anerkennen und transformieren

Die Diskussion zeigte, dass Fragen, die sich aus der Dekolonisierungsdebatte ergeben, für die Zivilgesellschaft produktiv genutzt werden können – nicht nur für diejenigen, die in der internationalen Zusammenarbeit tätig sind. Die Agenda 2030 kann nur umgesetzt werden, wenn die Zivilgesellschaft inklusiv handelt und die gesellschaftliche Diversität nicht nur berücksichtigt, sondern in die eigenen Entscheidungsprozesse einbezogen wird. Auch in der Zivilgesellschaft gibt es Machtstrukturen. Es ist wichtig, sich dieser Strukturen bewusst zu werden, um ihren möglichen negativen Auswirkungen in der täglichen Arbeit entgegenzuwirken.

Gleichzeitig sind die Mitglieder der Plattform Agenda 2030 auch aufgefordert, gerade auch in ihrer politischen Arbeit sensibel auf die in Verhandlungs- und Aushandlungsprozessen inhärenten kolonialen Machtstrukturen zu sein. Das können sie tun, indem wir uns alle dafür engagieren, neue Verhandlungstische zu schaffen, an denen Stimmen, die in der Vergangenheit nicht gehört wurden, von Anfang an ihren Platz einnehmen können. Dazu sind zivilgesellschaftliche Organisationen dann legitimiert, wenn sie selbst auf dekoloniale Ansätze setzen und ihren Grundwert des solidarischen Handelns leben und gemeinsam mit der Zivilgesellschaft weltweit verteidigen.

 

Bildnachweis: UN Photo. CC BY-NC-ND 2.0 DEED 

Schassmann Eva
Martin Leschhorn

Geschäftsführer Medicus Mundi Schweiz

Portrait Nina Vladovic
Nina Vladović

Fachverantwortliche Inklusion und Gesellschaftspolitik, HEKS.

Portrait Lisa Joanne Bissegger
Lisa Joanne Bissegger

Programmverantwortliche feministische Friedenspolitik, Frieda – die feministische Friedensorganisation

Tags

, , ,